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Am Ufer

Am Ufer

Titel: Am Ufer
Autoren: Paulo
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zuhören. Wollte mich mit ihm in eine Bar setzen, mich an die Zeiten erinnern, in denen wir zusammen spielten und glaubten, die Welt sei zu groß, als daß man sie je ganz kennenlernen konnte.

Samstag, 4. Dezember 1993
    Der Vortrag fand in einem förmlicheren Rahmen und vor mehr Leuten statt, als ich erwartet hatte. Ich konnte es mir nicht erklären.
    ›Wer weiß, vielleicht ist er berühmt geworden‹, dachte ich. In seinen Briefen hatte er mir nichts davon erzählt. Ich hätte gern mit den anderen Zuhörern gesprochen, sie gefragt, warum sie gekommen waren, doch ich traute mich nicht.
    Als ich ihn hereinkommen sah, war ich überrascht. Er wirkte anders als der Junge, den ich gekannt hatte – was nicht verwunderlich war, in elf Jahren verändert man sich eben. Er war schöner, und seine Augen leuchteten.
    »Er gibt uns zurück, was unser war«, sagte eine Frau neben mir.
    Ein merkwürdiger Satz.
    »Was gibt er zurück?« fragte ich.
    »Was uns geraubt wurde. Die Religion.«
    »Nein, er gibt sie uns nicht zurück«, sagte eine jüngere Frau, die rechts neben mir saß. »Man kann uns nicht zurückgeben, was uns sowieso gehört.«
    »Und was machen Sie dann hier?« fragte die erste Frau ungehalten.
    »Ich will ihn hören. Will erfahren, was die Leute hier denken, denn einmal haben sie uns schon verbrannt, und sie könnten es wieder tun.«
    »Er ist ein einsamer Rufer«, sagte die Frau, »er tut, was er kann.«
    Die junge Frau lächelte ironisch, wandte sich nach vorn und beendete so das Gespräch.
    »Für einen Seminaristen ist das sehr mutig«, fuhr die Frau fort und sah mich Zustimmung heischend an.
    Ich begriff überhaupt nichts, schwieg, und die Frau ließ es dabei bewenden. Die junge Frau neben mir zwinkerte mir komplizenhaft zu.
    Doch ich schwieg aus einem anderen Grund. Mir ging durch den Kopf, was die Dame gesagt hatte. Sie hatte ihn Seminarist genannt.
    Das konnte nicht sein. Er hätte es mir gesagt. Er begann zu sprechen, doch ich konnte mich nicht konzentrieren. ›Ich hätte mich besser anziehen sollen‹, dachte ich und verstand selbst nicht, warum ich mir darüber so viele Gedanken machte. Er hatte mich im Publikum bemerkt, und ich überlegte, was er dachte: Wie er mich wohl fand? Hatte ich mich sehr verändert?
    Seine Stimme war dieselbe. Seine Worte hingegen waren es nicht.
    Man muß Risiken eingehen, sagte er. Wir können das Wunder des Lebens nur richtig verstehen, wenn wir zulassen, daß das Unerwartete geschieht.
    Jeden Tag läßt Gott die Sonne aufgehen und schenkt uns jeden Tag einen Augenblick, in dem es möglich ist, alles das zu ändern, was uns unglücklich macht. Tag für Tag übergehen wir diesen Augenblick geflissentlich, als wäre das Heute wie gestern und das Morgen auch nicht anders. Aber derjenige, der seinen Tag bewußt lebt, nimmt den magischen Augenblick wahr. Er kann in dem Moment verborgen sein, in dem wir morgens den Schlüssel ins Schlüsselloch stecken, im Augenblick des Schweigens nach dem Abendessen, in den Tausenden von Dingen, die uns alle gleich anmuten. Diesen Augenblick gibt es – den Augenblick, in dem alle Kraft der Sterne uns durchdringt und uns Wunder vollbringen läßt.
    Manchmal ist das Glück ein Geschenk – doch zumeist will es erobert werden. Der magische Augenblick eines Tages hilft uns, etwas zu verändern, läßt uns aufbrechen, um unsere Träume zu verwirklichen.
    Wir werden leiden, werden schwierige Momente durchmachen, werden viele Enttäuschungen erleben – doch all dies geht vorüber und hinterläßt keine Spuren. Und später können wir stolz und vertrauensvoll zurückblicken.
    Weh dem, der sich davor fürchtet, ein Risiko einzugehen. Vielleicht wird er nie ernüchtert oder enttäuscht und auch nicht leiden wie jene, die träumen und diesen Träumen folgen. Doch wenn er dann zurückblickt – und wir blicken immer zurück –, wird er hören, wie sein Herz ihm sagt: ›Was hast du aus den Wundern gemacht, die Gott über deine Tage verteilt hat? Was hast du mit den Talenten gemacht, die dir dein Meister anvertraut hat? Du hast sie in einer Grube vergraben, weil du Angst hattest, sie zu verlieren. Und so ist dies nun dein Erbe: die Gewißheit, daß du dein Leben vergeudet hast.‹
    Weh dem, der diese Worte hört. Denn nun wird er an Wunder glauben, doch die magischen Augenblicke seines Lebens werden bereits verstrichen sein.
    Kaum hatte er geendet, da umringten ihn die Leute. Ich wartete, fragte mich, wie er mich nach so vielen Jahren wohl finden
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