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Am Ufer

Am Ufer

Titel: Am Ufer
Autoren: Paulo
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in die Kirche eingetreten waren, hatte tatsächlich eine tiefere Bedeutung. Die nämlich, daß einen am Ende der Geschichte immer Traurigkeit erwartet.«
    Die Frau sah mich an, ohne ein Wort zu sagen. Dann ging sie hinaus und kam kurz darauf mit einem Block Papier und einem Stift wieder.
    »Gehen wir hinaus«, sagte sie.
    Wir gingen zusammen hinaus. Es begann zu tagen.
    »Atmen Sie tief ein«, bat sie mich. »Lassen Sie diesen neuen Morgen in Ihre Lungen und durch Ihren ganzen Körper strömen. Mir kommt es so vor, als hätten Sie sich gestern nicht zufällig verlaufen.«
    Ich sagte nichts.
    »Außerdem haben Sie weder die Geschichte, die Sie mir gerade erzählt haben, noch ihre Bedeutung richtig begriffen«, fuhr sie fort. »Sie haben nur den traurigen Schluß behalten und die heiteren Augenblicke vergessen, die Sie erlebt haben. Sie haben das Gefühl vergessen, das so war, als wären die Himmel herabgestiegen, und wie schön es war, all das mit ihrem…«
    Sie hielt inne und lächelte.
    »…Jugendfreund erlebt zu haben«, sagte sie und zwinkerte mir zu. »Jesus hat gesagt: Laßt die Toten die Toten begraben. Denn Er weiß, daß es den Tod nicht gibt. Das Leben existiert bereits, bevor wir geboren werden, und es existiert weiter, wenn wir diese Welt verlassen.«
    Meine Augen füllten sich mit Tränen.
    »Dasselbe geschieht mit der Liebe«, fuhr sie fort. »Es gab sie vorher, und es wird sie immer weiter geben.«
    »Es ist, als kennten Sie mein Leben«, sagte ich.
    »Alle Liebesgeschichten haben etwas gemeinsam. Ich habe dies auch schon in meinem Leben durchgemacht. Doch daran denke ich nicht mehr.
    Ich erinnere mich daran, daß die Liebe in der Gestalt eines anderen Mannes, in der Gestalt neuer Hoffnungen, neuer Träume wiederkam.«
    Sie reichte mir das Papier und den Stift.
    »Schreiben Sie alles auf, was Sie fühlen. Holen Sie es aus Ihrer Seele, vertrauen Sie es dem Papier an, und werfen Sie es dann fort. Die Legende besagt, daß der Rio Piedra so kalt ist, daß alles, was in ihn hineinfällt – die Blätter, die Insekten, die Federn der Vögel –, sich in Steine verwandelt. Wer weiß, vielleicht ist es ja eine gute Idee, das Leid in sein Wasser zu werfen.«
    Ich nahm das Papier, sie küßte mich und sagte, ich könne, wenn ich wollte, zum Mittagessen wiederkommen.
    »Vergessen Sie eines nicht«, rief sie mir nach. »Die Liebe bleibt. Nur die Männer ändern sich!«
    Ich lachte, und sie winkte.
    Ich sah lange auf den Fluß. Weinte, bis ich keine Tränen mehr hatte.
    Dann begann ich zu schreiben.

Epilog
    Ich schrieb einen ganzen Tag und noch einen und noch einen. Jeden Morgen ging ich ans Ufer des Rio Piedra. Jeden Abend kam die Frau, nahm mich beim Arm und führte mich in ihr Zimmer im alten Kloster.
    Sie wusch meine Wäsche, bereitete das Abendessen, redete über Nichtssagendes mit mir und brachte mich ins Bett.
    Eines Morgens, ich hatte das Manuskript fast beendet, hörte ich das Geräusch eines Wagens. Mein Herz tat einen Sprung, doch ich wollte nicht glauben, was es mir sagte. Ich fühlte mich schon von allem befreit, bereit, in die Welt zurückzukehren und wieder ein Teil von ihr zu werden.
    Das Schwierigste war vorüber, aber die Sehnsucht nach ihm würde noch lange fortbestehen.
    Doch mein Herz hatte recht gehabt. Obwohl ich vom Manuskript nicht aufblickte, hörte ich seine Schritte und spürte seine Gegenwart.
    »Pilar«, sagte er und setzte sich neben mich.
    Ich antwortete nicht. Ich schrieb weiter, doch ich konnte meine Gedanken nicht mehr zusammenhalten. Mein Herz machte Bocksprünge, versuchte sich aus meiner Brust zu befreien und zu ihm zu eilen. Doch ich ließ es nicht zu.
    Er blieb dort sitzen, blickte auf den Fluß, während ich unablässig schrieb. Wir verbrachten so den ganzen Morgen – wortlos –, und ich erinnerte mich an das Schweigen in jener Nacht am Brunnen, wo ich plötzlich begriffen hatte, daß ich ihn liebte.
    Als meine Hand vor Müdigkeit nicht mehr weiterschreiben konnte, machte ich eine Pause. Da sprach er.
    »Es war dunkel, als ich aus der Höhle herauskam, und ich konnte dich nicht finden. Da bin ich nach Saragossa gefahren. Und dann nach Soria. Und ich wäre auf der Suche nach dir um die ganze Welt gefahren. Ich beschloß dann, zum Kloster von Piedra zurückzukehren, um zu sehen, ob ich eine Spur finden konnte. Und da traf ich eine Frau.
    Sie zeigte mir, wo du warst. Und sagte, daß auch du all die Tage auf mich gewartet hast.«
    Meine Augen füllten sich mit
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