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Am Ufer

Am Ufer

Titel: Am Ufer
Autoren: Paulo
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wird auf jemand anderen übergehen – sie wird niemals vergeudet. Gestern im Restaurant habe ich in Barcelona angerufen und den Vortrag abgesagt. Wir fahren nach Saragossa. Dort kennst du viele Leute, und wir könnten dort anfangen. Ich werde schnell eine Arbeit finden.«
    Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
    »Pilar!« sagte er.
    Doch ich war schon wieder in den Tunnel zurückgekehrt, ohne die Schulter eines Freundes, auf die ich mich stützen konnte – verfolgt von den unzähligen Kranken, die sterben, von ihren Familien, die leiden würden, von den Wundern, die nie getan würden, vom Lachen, das die Welt nun nicht mehr schmücken würde, von den Bergen, die nun immer an ihrem Platz bleiben würden.
    Und ich sah nichts – nur die beinahe körperliche Dunkelheit, die mich umgab.

Freitag, 10. Dezember 1993
    Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte. Meine Erinnerungen an jene Nacht sind wirr und undeutlich. Ich weiß nur, daß ich dem Tode nahe war – doch ich erinnere mich nicht mehr an sein Gesicht und wohin er mich führte.
    Ich würde mich gern daran erinnern, damit ich es auch aus meinem Herzen verbannen könnte. Doch es gelingt mir nicht. Seit ich aus dem Tunnel in die nun nachtdunkle Welt trat, erscheint mir alles wie ein Traum.
    Kein Stern strahlte am Himmel. Ich erinnere mich vage daran, daß ich bis zum Wagen gegangen bin, die kleine Tasche, die ich bei mir hatte, herausgenommen habe und ziellos weitergelaufen bin. Ich muß bis zur Straße gekommen sein, versucht haben, per Anhalter nach Saragossa zurückzukehren. Doch es hat nicht geklappt. Ich bin schließlich in die Gärten des Klosters gegangen.
    Das Rauschen des Wassers war allgegenwärtig. Überall gab es Wasserfälle, und mir war klar, daß mich die Große Mutter mit ihrer Anwesenheit immer verfolgen würde. Ja, sie hatte die Welt geliebt. Sie hatte die Welt so wie Gott geliebt, denn auch sie hat ihren Sohn hingegeben, damit er für die Menschen geopfert würde. Doch wußte sie auch etwas über die Liebe einer Frau zu einem Mann?
    Sie mag aus Liebe gelitten haben, doch es ging um eine andere Liebe. Ihr himmlischer Bräutigam war allwissend, tat Wunder. Ihr Bräutigam auf Erden war ein einfacher Arbeiter, der an alles glaubte, was ihre Träume erzählten. Sie hat nie erfahren, was es bedeutet, einen Mann zu verlassen oder von ihm verlassen zu werden. Als Joseph sie aus seinem Hause vertreiben wollte, weil sie schwanger war, schickte der himmlische Bräutigam sogleich einen Engel, um dies zu verhindern.
    Ihr Sohn hat sie verlassen. Doch Kinder verlassen ihre Eltern immer. Es ist einfach, aus Liebe zum Nächsten zu leiden, aus Liebe zur Welt oder aus Liebe zu seinem Kind. Dieses Leiden gibt einem das Gefühl, daß es Teil des Lebens ist, daß es ein edles, großartiges Leiden ist. Es ist einfach, aus Liebe für eine Sache oder eine Mission zu leiden: Das läßt das Herz dessen, der leidet, wachsen.
    Doch wie soll man erklären, was es bedeutet, um eines Mannes willen zu leiden? Es ist unmöglich. Denn man fühlt sich wie in der Hölle, weil dieses Leiden weder hehr noch groß, nur elend ist.
    An jenem Abend legte ich mich auf die gefrorene Erde, und die Kälte betäubte mich bald. Ich dachte kurz daran, daß ich sterben würde, wenn ich mir nicht etwas Wärmendes zum Zudecken suchte – doch wozu? Alles, was mir im Leben wichtig war, war mir großzügig in einer Woche gegeben – und in einer Minute, ohne daß ich Zeit gehabt hätte, etwas zu sagen, wieder genommen worden.
    Mein Körper begann vor Kälte zu zittern, doch ich kümmerte mich nicht darum. Irgendwann würde er schon damit aufhören, weil er all seine Energie in dem Versuch aufgebraucht haben würde, mich zu wärmen, und nun nichts mehr tun konnte. Dann würde mein Körper zu seiner gewohnten Ruhe zurückkehren und der Tod mich umfangen.
    Ich zitterte über eine Stunde lang. Und dann kam der Friede.
    Bevor ich die Augen schloß, hörte ich die Stimme meiner Mutter. Sie erzählte eine Geschichte, die sie mir immer als Kind erzählt hatte, doch damals ahnte ich nicht, daß sie einmal meine Geschichte sein würde.
    ›Ein Junge und ein Mädchen verliebten sich wahnsinnig ineinander‹, sagte die Stimme meiner Mutter zwischen Traum und Delirium. ›Und sie beschlossen, sich zu verloben. Verlobte schenken sich immer etwas. Der junge Mann war arm – sein einziger Besitz war eine Uhr, die er von seinem Großvater geerbt hatte. Er dachte an das schöne Haar seiner Liebsten und
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