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Am Ufer

Am Ufer

Titel: Am Ufer
Autoren: Paulo
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shibumi: die Raffinesse des Einfachen. Die Leute verdienen sich dumm und dusselig, gehen in sündhaft teure Restaurants und finden sich ›sophisticated‹.«
    Ich schenkte mir noch mal ein.
    Der Parador. Noch eine Nacht an seiner Seite.
    Ich fühlte mich, als wäre ich noch nie mit einem Mann zusammengewesen.
    »Merkwürdig, ein Priesterschüler, der Worte wie ›sophisticated‹ im Munde führt«, sagte ich, um nicht daran zu denken.
    »Das habe ich im Seminar gelernt. Je mehr wir uns durch den Glauben Gott nähern, desto einfacher wird Er. Und je einfacher Er wird, desto stärker ist Seine Gegenwart.«
    Seine Hand strich über die Tischplatte.
    »Christus hat sich auf seine Mission vorbereitet, indem er Holz sägte und Stühle, Betten, Schränke baute. Er kam als Tischler, um uns zu zeigen, daß wir – gleichgültig, was wir tun – Gottes Liebe teilhaftig werden können.«
    Plötzlich brach er ab.
    »Doch darüber möchte ich jetzt nicht sprechen«, sagte er, »sondern über eine andere Art von Liebe.«
    Seine Hände berührten mein Gesicht.
    »Warum hast du plötzlich aufgehört zu reden? Warum willst du nicht von Gott sprechen, von der Heiligen Jungfrau, von Spiritualität?«
    Er ließ sich nicht beirren: »Ich möchte von einer anderen Art Liebe reden, von der Liebe zwischen Mann und Frau, in der sich auch Wunder offenbaren.«
    Ich ergriff seine Hände. Mochte er die großen Mysterien der Göttin kennen, mochte er noch so weit gereist sein – von der Liebe wußte er genausowenig wie ich.
    Doch die Liebe fordert ihren Preis. In seinem Fall: die Initiative. Die Frau zahlt den noch höheren Preis, den der Hingabe.
    Wir blieben lange Hand in Hand sitzen. Ich las die uralten Ängste in seinen Augen, die die wahre Liebe uns als Prüfung auferlegt, damit wir sie besiegen. Ich las darin die Erinnerung an die Abweisung der letzten Nacht, an die lange Zeit, die wir getrennt voneinander verlebt hatten, an die Jahre im Kloster, in der all dies nicht zugelassen war.
    Ich las in seinen Augen die Tausende von Malen, in denen er sich diesen Augenblick vorgestellt hatte, die Szenarien, die er um uns beide gerankt hatte, meine Frisur, die Farbe des Kleides, das ich tragen würde. Ich wollte ›ja‹ sagen, sagen, daß er nicht abgewiesen werden würde, daß mein Herz die Schlacht gewonnen hatte. Ich wollte ihm sagen, wie sehr ich ihn liebte, wie sehr ich ihn in diesem Augenblick begehrte.
    Doch ich schwieg. Ich sah wie im Traum seinen inneren Kampf. Sah, daß er sich vor meinem ›Nein‹ fürchtete, die Angst, mich zu verlieren, die harten Worte, die er in ähnlichen Situationen gehört hatte – denn wir alle haben so etwas erlebt und jedesmal eine Wunde davongetragen.
    Seine Augen begannen zu strahlen. Ich wußte, daß er dabei war, all diese Hindernisse zu überwinden.
    Da ließ ich eine seiner Hände los, nahm ein Glas und stellte es an den Rand des Tisches.
    »Es wird hinunterfallen«, sagte er.
    »Genau. Ich möchte, daß du es hinunterstößt.«
    »Ein Glas zerbrechen?«
    Ja, ein Glas zerbrechen. Eine auf den ersten Blick einfache Geste, die jedoch Ängste weckte, die wir niemals genau begreifen werden. Was ist schon dabei, ein billiges Glas hinunterfallen zu lassen, aus Versehen haben wir das doch alle schon einmal getan.
    »Ein Glas zerbrechen?« wiederholte er. »Warum?«
    »Ich könnte es erklären«, antwortete ich. »Aber eigentlich geht es nur um das Zerbrechen.«
    »Für dich?«
    »Natürlich nicht.«
    Er schaute auf das Glas an der Tischkante, fürchtete, es könnte hinunterfallen.
    ›Du würdest es ein Ritual des Übergangs nennen‹, hätte ich gern gesagt. ›Es ist verboten. Gläser zerbricht man nicht einfach nur so. In einem Restaurant oder zu Hause achten wir immer darauf, daß ein Glas nicht zu nahe an der Tischkante steht. Unsere Umwelt erwartet von uns, daß wir aufpassen, daß die Gläser nicht auf den Boden fallen. Aber wenn wir sie dann doch aus Versehen zerbrechen, sehen wir, daß es halb so schlimm war. Der Kellner sagt ‘das macht nichts’, und ich habe in einem Restaurant noch nie erlebt, daß ein zerbrochenes Glas mit auf der Rechnung stand. Gläser zu zerbrechen gehört zu unserem Leben, und wir fügen damit weder uns noch dem Restaurant oder dem Nächsten einen Schaden zu.‹
    Ich schlug auf den Tisch. Das Glas zitterte, fiel aber nicht hinunter.
    »Vorsicht!« sagte er instinktiv.
    Ich ließ nicht locker: »Stoß es hinunter!«
    Zerbrich das Glas, dachte ich bei mir, weil es eine
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