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Am Ufer

Am Ufer

Titel: Am Ufer
Autoren: Paulo
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sehen sich im Augenblick auch als Revolutionärin. Sie wollen zusammen mit ihm die Welt verändern, Wege eröffnen, alles tun, damit Ihre Liebesgeschichte zu einer Art Legende wird, die von einer Generation an die andere weitergereicht wird. Sie glauben noch immer, daß die Liebe siegen kann.«
    »Und kann sie es denn nicht?«
    »Doch. Allerdings erst, wenn die Zeit dafür reif ist. Dann, wenn die himmlischen Schlachten beendet sind.«
    »Ich liebe ihn. Und muß nicht auf den Sieg meiner Liebe warten, bis die himmlischen Schlachten ausgetragen sind.«
    Sein Blick schweifte in die Ferne.
    »An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten«, sagte er, als würde er zu sich sprechen. »Unsere Harfen hängten wir an die Weiden dort im Lande.«
    »Wie traurig«, meinte ich.
    »Es sind die ersten Zeilen eines Psalms. Er spricht vom Exil, von denen, die in das Gelobte Land zurückwollen und es nicht können. Und dieses Exil wird noch einige Zeit dauern. Was aber kann ich tun, um zu verhindern, daß jemand leidet, der zu früh in das Paradies zurückkehren will?«
    »Nichts, Pater. Überhaupt nichts.«
    »Da ist er«, sagte der Pater.
    Ich sah ihn. Er kniete etwa zweihundert Meter von uns entfernt im Schnee. Er war in Hemdsärmeln, und ich konnte sogar aus dieser Entfernung erkennen, daß seine Haut rot vor Kälte war.
    Er hielt den Kopf gesenkt, die Hände zum Gebet gefaltet. Ich weiß nicht, ob es wegen des Rituals war, an dem ich in der vergangenen Nacht teilgenommen hatte, oder wegen der Brennholz sammelnden Frau bei der Hütte, aber ich spürte, daß ich jemanden betrachtete, von dem eine ungeheure spirituelle Kraft ausging. Jemand, der nicht mehr dieser Welt angehörte, jemand, der eins mit Gott war und den erleuchteten Geistern des Himmels. Der gleißende Schnee verstärkte diesen Eindruck noch.
    »Auf diesem Berg sind noch andere wie er«, sagte der Pater. »In ständigem Gebet versunken, teilen sie miteinander die Erfahrung, eins mit Gott und der Heiligen Jungfrau zu sein, lauschen sie den Engeln, den Heiligen und den Prophezeiungen und geben dies an eine kleine Gruppe von Gläubigen weiter. Solange er nur das tut, wird er keine Schwierigkeiten bekommen. Doch wird er es nicht dabei belassen. Er wird durch die Welt ziehen und die Lehre von der Großen Mutter verbreiten. Die Kirche duldet das jetzt noch nicht. Viele stehen schon bereit, um jeden zu steinigen, der dieses Thema berührt.«
    »Aber diejenigen, die ihnen folgen, werden mit einem Blumenregen begrüßt werden.«
    »Ja. Aber er noch nicht.« Der Pater schritt weiter auf ihn zu.
    »Wohin gehen Sie?«
    »Ich werde ihn aus seiner Trance wecken. Ihm sagen, daß Sie mir gefallen haben und daß ich Ihrer Verbindung meinen Segen gebe. Ich möchte das hier tun, an diesem Ort, der ihm heilig ist.«
    Mir wurde schlecht, Angst schnürte mir die Kehle zu, doch warum ich diese Angst verspürte, konnte ich mir nicht erklären.
    »Ich muß nachdenken, Pater. Ich bin mir nicht sicher, ob das richtig ist.«
    »Es ist nicht richtig«, antwortete er. »Viele Eltern handeln falsch an ihren Kindern, weil sie glauben, sie wüßten, was für sie das Beste ist. Ich bin nicht sein Vater und weiß, daß ich nicht richtig handle. Dennoch muß ich mein Schicksal erfüllen.«
    »Stören Sie ihn nicht«, sagte ich. »Lassen Sie ihn selbst aus seiner Versenkung herausfinden.«
    »Er sollte nicht hier sein. Er sollte bei Ihnen sein.«
    »Vielleicht spricht er mit der Heiligen Jungfrau.«
    »Mag sein. Dennoch muß ich zu ihm. Wenn er mich mit Ihnen zusammen sieht, weiß er, daß ich Ihnen alles erzählt habe. Er weiß, was ich darüber denke.«
    »Heute ist der Tag der Unbefleckten Empfängnis«, beharrte ich. »Für ihn ist das ein ganz besonderer Tag. Ich habe seine Freude gestern nacht vor der Grotte miterlebt.«
    »Die Unbefleckte Empfängnis ist für uns alle wichtig«, antwortete der Pater. »Aber jetzt will ich mich nicht über Religion streiten: Gehen wir zu ihm.«
    »Warum jetzt, Pater? Warum ausgerechnet jetzt?«
    »Weil er dabei ist, die Entscheidung über seine Zukunft zu treffen. Und es könnte sein, daß er sich für den falschen Weg entscheidet.«
    Ich wandte mich um und begann den Weg hinunterzugehen, den wir heraufgekommen waren.
    »Was tun Sie? Sehen Sie denn nicht, daß Sie die einzige sind, die ihn retten können? Sehen Sie nicht, daß er Sie liebt und für Sie alles aufgeben würde?«
    Ich ging schneller, er hatte Mühe, mir zu folgen, und doch blieb er mir dicht auf den
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