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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition)
Autoren: Rafael Chirbes
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Schwägerin Laura die von meinem Bruder hinterlassene Werkstatt abgekauft hat –, und jetzt hat er eine Autovertretung, ich erinnere sie als ernsthafte, kompakte Männer, ganz Muskelfaser, sie hatten noch nicht diese Farblosigkeit des Vaters, diese Breite und Schwere. Mein Schwiegervater erinnerte mich an einen französischen Schauspieler, an Jean Gabin;der älteste Bruder, Jesús, der Fischer, entwickelte sich ebenfall so, er wurde füllig, plump; der zweite, José, erreichte nicht diese Fülle, zu der ihn die Genetik verdammte, das Schicksal hat den Entwicklungsprozess abgebrochen, er starb bei der Probefahrt mit einem Auto in den Kurven von Xàbia, das ist jetzt gut dreißig Jahre her, sein schlanker muskulöser Körper lag enthauptet neben dem Auto, ich habe es nicht gesehen, aber es wurde an die hundert Mal in der Bar erzählt, in allen Details beschrieben, es gab so viele Leute, die ihn gesehen hatten oder behaupteten, ihn gesehen zu haben, dass ich ihn am Ende ebenfalls sah, auch jetzt sehe ich ihn: sein enthaupteter Körper und ein Auto, das sich gerade überschlagen hat, die Räder drehen sich in der Luft. Wie viel Zeit ist seit all dem vergangen, und ich sitze hier und sehe im Dunkeln die Bilder, sehe sie, die immer das gewisse Etwas eines modernen Mädchens hatte, sie schien in eine andere Familie zu gehören, ihre Schönheit hatte etwas Urbanes, als sei sie von Anfang an dazu bestimmt gewesen, von hier auszubrechen; vor allem hatte sie eine besondere Vitalität, die ein wenig affektiert war: man erahnt das – auf einem anderen der nicht mehr existierenden Fotos – in ihren Zügen, in der Art, wie der quer gestreifte Nicki – eine kleine Stadtmatrosin – sich am Ausschnitt öffnet, um die zarte Haut am Hals zu zeigen, in dem kurz geschnittenen Haar, die kleine Matrosin aus einer Schneiderzeitschrift oder einer Musikrevue, nicht die Tochter eines Fischers, was sie war; nicht die eines Bootsbesitzers, nein: Tochter eines Fischers, von denen, die einen Anteil vom Tagesfang erhielten, Leute, die eine kleine Randgruppe innerhalb von Misent bildeten oder, besser gesagt, am Rand von Misent, denn ihr Viertel drückte sich mit seinen Häusern ans Meer und schützte sich vor den Stürmen mit kleinen, parallelen Dämmen, die an die Fassaden angebaut waren und die Außentreppe abschirmten, über die man in den ersten Stock gelangte, der Ort, in dem das Leben stattfand und wo man die Gegen stände von einem gewissen Wert verwahrte, da das Untergeschoss bei den Unwettern im Herbst stets überschwemmt wurde. Ich sehe die Gesichter,die Leiber, aber auch die alten Häuser, die seit Jahren nicht mehr existieren, ich sehe das Meer von damals, das dem von heute nicht ähnelt, irgendetwas hat sich verändert, ich weiß nicht, ist es die Farbe, das kann nicht sein, wie soll sich die Farbe des Meeres verändern, das ist absurd, aber das Meer wirkt heute anders auf mich. Fremd. Verblasst. Vielleicht hat meine Fähigkeit, Farben wahrzunehmen, nachgelassen. Der Sumpf hingegen ist in seiner Verfallenheit noch mit sich selbst identisch, für mich ist der, den ich vor Augen habe, identisch mit dem aus meiner Erinnerung; ich rieche ihn wie damals. In meinem Albtraum verwandelt er sich nach und nach zu einer riesigen dunklen Hand, die ich aus der Luft betrachte, als ritte ich auf dem Rücken einer der Enten, die sich in wärmere Gefilde aufmachen. Die Ente schlägt mit den Flügeln, schüttelt sich, als wollte sie mich loswerden, über der finsteren Wasserhand abwerfen. Wieder eine Nacht, in der ich außer Atem aufwache und nach dem Lichtschalter suche. Ich finde ihn nicht gleich, schlage mit der Hand danach. Ich tauche in das dunkle Wasser des Sumpfs, diese gigantische Hand drückt mich, bis das Licht angeht. Erst dann entspanne ich mich, zwinge mich zu einem langsamen Atemrhythmus und versuche, den Kopf leer zu bekommen, was mir aber nicht gelingt. Vor einer Weile war ich das Kind, das im fried lichen Dahindämmern das gedämpfte Geräusch des Bügeleisens auf der Decke, die das Bügelbrett umgibt, hört: Der Junge schließt die Augen und spürt, dass das Glück in diesem Geruch nach heißer Wäsche, Feuchtigkeit und Seife liegt, von dem das Zimmer erfüllt ist, in dem er vor sich hin dämmert, während seine Mutter bügelt; in dem Augenblick, da die Mutter das Bügeleisen nah an ihre Wange hält, um die Temperatur des Eisens abzuschätzen, bin ich das Kind, das die Bewegung vom Bett aus sieht, und zugleich der alte Mann, der die
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