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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition)
Autoren: Rafael Chirbes
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geschüttet und geschüttet, die letzte Regenepisode in diesem Jahr), ein Gesicht, ein Körper, der sich hinter einem Glas bewegt und atmet: die Haare schweben um ihr Gesicht, schwerelos, unwirklich. Die Haut ist von einer grünbläulichen Blässe. So sieht man die Tiere in einem Aquarium, verklärt von diesem besonderen Unterwasserlicht, ein milchiger, fluoreszierender Schleier. Auch wenn jetzt die Erscheinung von Leonor eher ein melancholisches Echo der Stimme ist, die in meinem Hirn hämmert, Lilianas Stimme, sie hat die Dichte des Fleischs, der Materie:Wie wär’s mit einem kleinen Schwarzen, Don Esteban? Ja, jetzt lachen Sie, aber das erste Mal haben Sie sich sehr gewundert, dachten, ich rede von einem Cocktailkleid, dabei meinte ich einen Kaffee nach unserer Art. Ein Kaffee aus Bohnen, die im Schatten der Guamos gewachsen sind. Der Schatten eines Guamos, wissen Sie, was ein Guamo ist? Ich glaube, ich hab’s Ihnen schon gesagt, Guamos sind die Bäume, die der Kaffeepflanzung Schatten geben. Sie schützen sie, damit die Pflanzen nicht verdorren und Sie jetzt diesen kleinen Schwarzen, den ich gerade zubereite, trinken können. Wir reden dieselbe Sprache, aber anders, man sagt, das sei alles Spanisch, aber wir nennen unsere Moskitos Stechmücken, und euch nennen wir
godos
, wie die Goten, und was ihr macht,
godarrías
, aber das sind hässliche Namen. So ähnlich, wie wenn man uns hier
conguitos
, von wegen Kongo, nennt. Die Guamos schirmen vor der unbarmherzigen Sonne ab. Sie schützen die Kaffeepflanzungen, so wie Sie mich oft geschützt haben. Der schützende Schatten. Und die Stimme, deine Stimme lässt mich allein, wehrlos. Scheiße noch mal, Liliana, Scheiße. Du mit deinen beschissenen Guamos.
    Wie alt bin ich? Vier? Fünf? Ich sitze zwischen den Armen meines Onkels und beobachte ihn dabei, wie er das Papier faltet und mir ein prächtiges Geschenk in Aussicht stellt, ich darf das Blatt in den Umschlag stecken und sodann die Briefmarke aufkleben, womit der eben geschriebene Geschäftsbrief an sein Ziel gelangen kann: Erneut spüre ich die Erregung, mit der Zunge über den süßlichen Leim zu fahren und danach mit der Faust auf die Marke zu drücken, damit sie gut haftet; als sie klebt, betrachte ich verzückt das farbige Bildchen. Ich hätte es gern in meiner Sammlung gewusst, aber die Briefmarken, die ich aufklebe, verschwinden im Briefkastenschlitz, durch den ich die Briefe selbst einwerfe. Doch er lässt mich die Marken aufkleben, wenn er einen Brief schickt, lässt mich mit der Zunge über den süßlichen Leim fahren und dann mit der geschlossenen Faust auf die bunten Briefmarken drücken; sie gefallen mirnicht, wenn sie in matten Farbtönen das Gesicht irgendeines alten Manns abbilden – inzwischen weiß ich, dass es sich dann um einen Politiker, einen Maler, einen Musiker oder einen Wissenschaftler handelt –, aber da gibt es auch andere, in leuchtenden Farben, die Blumen, Vögel oder Fahnen zeigen. Ich spüre nachts, wie Leonor in der Dunkelheit des Kinos an meinem Ohr knabbert, die feuchte Wärme ihrer Zunge kitzelt am Knorpel, und dieses vibrierende, heißfeuchte Gefühl teilt sich als Schauder dem restlichen Körper mit und nimmt mir den Atem. Alte Fotos kreuzen durch die Nacht, die Schule, die Schüler vor dem Tor, oder ich hinter dem Pult, mit einem Federhalter in der Hand, und hinter mir die Landkarte Spaniens. Fotos von ihr, von Leonor: auf einem hat sie lange Haare, die in ungleichmäßigen Strähnen über die Schultern fallen. Man besingt, was man verliert, sagt der Dichter. Sie trägt einen sehr kurzen hellen Rock und eine Bluse mit Blumenmuster; zwei Knöpfe der Bluse stehen offen und lassen ihren Brustansatz sehen. Auf einem anderen ist sie mit ihrem Vater zu sehen. Sie schenkte es mir, weil ich sagte, das Foto gefalle mir am besten. Ihr Vater: ein dunkles Hemd, die Hände breit und hart, als hätten sie eine Schale, ein Seemann. Ich habe diese Fotos verbrannt. Sie sind nur in meinem Kopf, noch für wenige Stunden. Auch die Brüder von Leonor sind in meiner Erinnerung harte, sehnige junge Männer, den Ältesten, wie sein Vater Fischer in Misent, sehe ich noch ab und zu; die anderen beiden tragen in meiner Erinnerung einen Blaumann: Sie kamen damit aus der Werkstatt, ich sehe sie auf dem Heimweg oder im Gespräch am Tresen. Von den beiden ist einer früh gestorben, der andere hat schließlich eine eigene Autowerkstatt in Misent aufgemacht – offensichtlich war er es, der meiner
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