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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition)
Autoren: Rafael Chirbes
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wie’s eben kommt, der Daumen in den leeren Gläsern oder den vollen Tellern. Die Kellner sind nicht fähig, korrekt ein Tablett zu tragen. Die Hände sind nicht mehr so wichtig, aber einst waren sie heilig: Sie taugten zum Arbeiten, aber auch zum Segnen, Weihen, man legte den Kranken zur Heilung die Hand auf. Den Künstlern, Schriftstellern, Malern, Bildhauern oder Musikern machte man auf dem Totenbett einen Abdruck der Hände. Das machte man. Es war einmal. Sie waren. Hatten. Sind gewesen. Alles Vergangenheit. Meine Mutter bügelt, mein Onkel baut ein Wägelchen, das von einem Holzpferdchen gezogen wird, er lässt mich Briefmarken aufkleben und führt mich über den Jahrmarkt. Ich sehe ihn an der Schießbude abdrücken, der Kolben des Gewehrs verdeckt einen Teil seines Gesichts. Er zielt auf ein Band, an dem ein kleiner Blechlaster hängt. Die Volksfeste mit den vielfarbigen chinesischen Lampions, die erst wie eine Ziehharmonika auseinandergezogen und dann an den Enden mit Stöckchen zusammengesteckt wurden, bis sie zu Blumen wurden, wir Kinder fanden sie wunderschön, fröhlich schwebten sie, an Kabeln befestigt, über den Köpfen der Tänzer, die bei den Festen auftraten. Bonet de San Pedro, Machín, Concha Piquer. Das Getöse der Gokarts und das Knistern der Funken in dem Kabelnetz über der Bahn. Meine Mutter singt. Rosenzweiglein. Auf dem Jahrmarkt der Geruch des alten Frittieröls der Verkäufer von Ausgebackenem, der von den karamellbedeckten Äpfeln, die Zuckerwatteflocken. Die scheppernde Musik. Das Geräusch der kleinen Kugeln, mit denen man die Entlein umschießt, die im Hintergrund der Bude an einem Endlosband vorbeiziehen, oder die Papierbänder durchtrennt, an denen ein Päckchen Tabak, eine Tüte Bonbons oder ein Blechspielzeug hängt. Die Musik, die mit einem metallischen Scheppern von der Autopiste herdringt, metallisch auch die Stimme des Mannes, der die Gewinne der Tombola ausruft. Ich weiß nicht, ob es diese Dinge noch gibt, vermutlich ja, und vermutlich hat sich daran nicht viel verändert,auch wenn hier in Olba schon seit vielen Jahren kein Jahrmarkt mehr aufgebaut wird. Meine Hand in der Hand meines Onkels, wir spazieren an den Buden entlang. Das Glück so weit wegrücken? In der Zeit, meine ich, es zeitlich so fern rücken; was die Perspektive angeht, so ist es weder fern noch nah, auf das Glück wartet man, man sucht es, und wenn man müde vom Warten geworden ist, stellt sich heraus, dass der Inhaber des Lokals, in dem du die Begegnung erwartest, es eilig mit dem Ladenschluss hat (aber, hören Sie mal, nur keine Hast, bitte nicht drängeln, nicht schieben, lassen Sie mich wenigstens das Glas austrinken). Gleich da vorne ist die Tür, zu der er dich schiebt, und draußen dehnt sich die Nacht, der du dich allein stellen musst, die Dunkelheit, vor der sich das Kind fürchtet, und du willst nicht in diese Schwärze ein gehen.
    Dünen an der Mündung des Flusses, das heißt am Entwässerungskanal für den Sumpf, der zugleich die Rinne ist, durch die an Hochwassertagen das Meer ins Land hereinschlägt. Wenn Wind vom Golf von Lion herüberweht und die Wellen größer werden, versucht das Meer sein Gebiet zurückzuerobern, das, was ihm durch natürliche Sedimente und die Landgewinnung des Menschen verloren gegangen ist. Das ganze Gebiet des Marjal war ursprünglich ein Golf, das Meer reichte bis zu dem von den Bergen gezeichneten Bogen, die Wellen leckten am Fuß des Felsenzirkus, ich sehe dessen Gipfel oberhalb des Schilfs und jenseits der bepflanzten Zone, die sich hinter der Vegetation des Feuchtgebiets ausdehnt. Im Winter treten die einzelnen Grenzen deutlicher hervor, die sich im Frühling und im Sommer in pastösen Grüntönen vermalen. Jetzt sind da die winterlichen Ockertöne des Röhrichts, dann das dunkle Grün der Orangenbäume und am Hang das etwas hellere der Kiefern, da drüber das bläuliche Kalkgestein. Der Golf hat sich nach und nach mit einer immer höheren und breiteren Dünenkette geschlossen. Diese konfuse Landschaft, in der sich Wasseroberflächen mit solchen aus Schlamm und mehr oder weniger festem Land – manchmal handeltes sich um Treibschlamm – abwechseln, macht den Eindruck einer unvollendeten Welt (so ist es: die Natur fährt mit dem langsamen Auffüllungsprozess fort, der Schlamm ist Teil der Lagune, zugleich verschlingt er sie, Geburt und Todeskampf zugleich), ein trügerisches Standfoto des Augenblicks, als Gott begann, Wasser und Erde zu scheiden, eine
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