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Am Sonntag kommt das Enkelkind - und andere Einblicke in meine Wel

Am Sonntag kommt das Enkelkind - und andere Einblicke in meine Wel

Titel: Am Sonntag kommt das Enkelkind - und andere Einblicke in meine Wel
Autoren: Langen Müller
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Afrika«. Philosophenernst schaut er auf die schönen Schriftzeichen, oder er lächelt wie ein junger Mann, den zum ersten Mal Amors Pfeil getroffen hat. Und weil ich trotz meiner 78 Lebensjahre noch immer nicht gelernt habe, verzauberten Momenten zu widerstehen, bricht mir das Herz. So wie ein Kinderlächeln wärmt kein Sonnenstrahl. Gesegnet seien die Herzensbrecher, die noch nicht wissen, was sie tun.

Glück im Zopfmuster
    Sie stricken in Lüneburg und in Liverpool, an der Loire, unter Südtiroler Apfelbäumen und auf der schwäbischen Eisenbahn. Eine Zeitlang wurde bei uns die Kunst der klappernden Nadeln als altmodisch und hausbacken diffamiert. Strickende Frauen sahen nach landläufigen Vorurteilen alle wie die Witwe Bolte aus, der Max und Moritz das Mittagessen klauen.
    Zwei rechts, zwei links, Maschen zählen, Muster stricken, das alles passte nicht ins Bild unserer Zeit. Lorbeeren bekommen heute die coolen Typen, die auf Erfolg getrimmten Powerfrauen und die Businessladys, die nicht vergessen, regelmäßig ihr Innenleben zu entkernen und ihr Herz auszukehren. Solche Erfolgsamazonen geben sich nicht damit ab, dem Teddy der Tochter ein Mützchen zu stricken oder dem Gatten einen Pulli im Zopfmuster. Es war nie anders. Cleopatra hat sich einen Dreck darum geschert, ob Cäsar wollene Socken für kalte Nächte hatte, Katharina die Große hat nicht gestrickt, obgleich man in Russland wahrlich warme Sachen braucht, und Englands Suffragetten, die ja mit als erste auf die Idee kamen, Frauen und Männer wären gleich gestrickt, haben sich an Zäune gekettet. Das ist beim Stricken hinderlich.
    Heute darf jede Frau mit Wolle werkeln, ohne in den Verdacht der Spießigkeit zu geraten. Bankerinnen und Politikerinnen stricken, Elektronikspezialistinnen ebenso und auch die Psychiaterin mit zwei Doktortiteln. Wetten, dass Angela Merkel stricken kann? Sie entstammt ja der Generation, die zu Muttis Geburtstag selbst gemachte Topflappen abzuliefern hatte. So weit, dass Frau M. im Bundestag einen gestreiften Schal strickt, um ihre Hosenanzüge aufzupeppen, sind wir zwar noch nicht, aber Stricken ist total in. Es gilt als kreativ und nervenberuhigend.
    Die Stricknadeln sind schöner und flexibler als früher; wer sich aufmacht, um Wolle zu kaufen, vermag kaum zu fassen, was aus einem Schaf alles werden kann. Geschäfte für die handarbeitende Zunft sind Wärmestuben für die Seele. Hier treffen sich Alt und Jung, Anspruchsvolle und Bescheidene, Sparsame und Verschwenderinnen. Die Beraterinnen (sie Verkäuferinnen zu nennen, wäre unfein) sind geduldig, liebenswürdig, interessiert und sachkundig.
    Nach langen Jahren der Abstinenz stricke ich auch wieder. Neulich machte mir ein Teenager mit lila Haaren ein Kompliment für meine selbst gestrickte Mütze. Seitdem trage ich den Kopf in den Wolken. Im Himmel stricken sie nämlich ihre Schals aus Sonnenstrahlen.

Wer singt denn noch die alten Lieder?
    Schrill zwitschert die Amsel vom Mutterglück. Sie ist berauscht vom Krokuswein und verwechselt den März mit dem Mai, aber die Dame täuscht sich. Die Sonne schluckt nämlich Grippepillen und schlürft Kamillentee. Das Frühjahr ist heute laut Kalender einen Tag alt, doch absolut noch nicht da. Die Magnolienblüten haben die Premiere verschoben, Schmetterlinge studieren die Angebote für Heizkissen. Die Gänseblümchen hocken auf dem Rasen, der noch nicht sprießt, und meditieren über den Sinn des Lebens.
    Kein Kind erfährt mehr, dass im März der Bauer die Rösslein anspannt, denn die jungen Mütter singen nicht mehr die alten Lieder. Nur grauhaarige Weltflüchtlinge lesen noch Gedichte. Im Fernsehen führen Models mit starrem Blick schon die Mode für den nächsten Winter vor. Viel Schwarz ist angesagt und noch mehr Traurigkeit.
    Wir reden immerzu von Krisen und nie von Frühlingsbrisen. Wer weiß, ob die Störche noch Babys mit sich führen, die in roten Tragetüchern liegen und vom Leben schwärmen? Fingen nicht in früheren Jahren um diese Jahreszeit die ersten Hasen mit dem Eierlegen an? Das Gerücht will aber wissen, dass sie noch über das Recht der deutschen Löffelträger zur eigenständigen Herstellung von Nougat und Marzipan debattieren. Ein jeder, so stand jüngst in einem gut informierten Hasenblatt zu lesen, neide dem anderen entweder die Mandeln oder die Eierfarben.
    Hausfrauen turnen nur noch selten auf dem Fenstersims. Die Teppichklopfer aus Rohr wanderten auf den Speicher. Teppiche werden nicht mehr verprügelt. Wen
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