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Am Hang

Am Hang

Titel: Am Hang
Autoren: Markus Werner
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so weiter, kurzum, es muß ernüchternd sein, nicht wahr, sich ständig konfrontiert zu sehn mit Scheidungssachen, bringt Sie das nicht in Versuchung, die Ehe für undurchführbar zu halten? – Versuchung, sagte ich, sei nicht das richtige Wort, das richtige sei Gewißheit. Fast zwingend sei ich in Anbetracht von pausenloser Zweierpein genötigt, die Ehe als Irrweg zu sehn beziehungsweise als glatte Überforderung der menschlichen Natur, die einfach zu schweifend scheine, als daß sie sich auf Dauer zähmen lasse und auch nur die paar Regeln akzeptieren könne, die, würden sie befolgt, die Ehe vielleicht möglich machten. Es spotte jeder Beschreibung, sagte ich, was sich Paare in Scheidung antäten, sei es in Fortsetzung dessen, was sie sich während der Ehe schon angetan hätten, sei es in der Entwertung einstigen Glücks. Das Verrückteste aber sei, daß sich die Leute, obwohl bereits jede zweite Ehe geschieden werde, von der Heiraterei nicht abhalten ließen, und als noch verrückter müsse der Umstand gelten, daß es sich bei über zwanzig Prozent der Eheschließungen um Wiederverheiratungen handle.
    – Loos, der mir mit so großer Aufmerksamkeit zugehört hatte, daß ich meine Darlegungen gern noch vertieft und fortgesetzt hätte, unterbrach mich und sagte: Sie sind also Junggeselle. – Ein überzeugter, wie Sie gemerkt haben dürften. – Dann ist ja Ihre menschliche Natur nicht überfordert, das freut mich, sagte er, und während ich noch überlegte, wie er das meinen könnte, mokant oder ernst, sagte er leise: Mir ist sie Heimat gewesen. – Ich suchte seinen Blick, Loos aber schaute übers Tal. Wer? fragte ich. Die Ehe, sagte er. Gewesen? – Er nickte. Sind Sie verwitwet? – Er trank. Wissen Sie, sagte er dann, Ihre Statistiken sind mir nicht unbekannt, ich weiß sogar, daß in jedem Ehebett zwei Millionen Staubmilben toben, und einer noch verstörenderen Untersuchung habe ich entnommen, daß deutsche Paare nach sechs Ehejahren im Schnitt noch neun Minuten täglich miteinander reden und amerikanische vier Komma zwei. – Eben, eben, sagte ich nur. – Und nun frage ich Sie, fuhr er fort, ob dieser Befund Rückschlüsse auf die menschliche Natur zuläßt oder vielleicht doch eher und unter anderem aufs abendliche Fernsehritual. – Vermutlich auf beides, sagte ich, denn einmal angenommen, das wachsende Schweigen der Paare liege am wachsenden Fernsehkonsum, so stellt sich immer noch die Frage, warum der Bildschirm einer Plauderstunde vorgezogen wird. Es ist nicht so – ich höre es oft als Anwalt –, daß man nicht redet, weil man fernsieht, nein, man sieht fern, weil es nichts mehr zu reden gibt, weil man sich nichts mehr zu sagen hat, schon gar nichts Neues oder Spannendes, es hat sich totgelaufen: das ist die Wendung, die ich am häufigsten höre, und daraus schließe ich, daß sich die menschliche Natur nach Abwechslung und Farbe sehnt und sich nicht an Gewohnheit gewöhnt. – Um recht zu haben, sagte Loos, haben Sie allzu recht, und wie gesagt, ich habe es anders erlebt, zum Wohl.
    Zum Wohl, Herr Loos, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, ich weiß natürlich, daß es auch glückliche Ehen gibt. – Das interessiert mich nicht, sagte er. – Verzeihung, ich dachte, das sei unser Thema. – Es ist schon kurios, sagte er, je herrischer der Zeitgeist in unsere Seelen sickert und unser Verhalten bestimmt, um so bornierter beruft man sich auf die Natur des Menschen. Man könnte meinen, es handle sich dabei um Heimweh, weil unsere Natur ja längst verkümmert ist, und nicht um einen Trick, der dazu dient, uns zu entlasten: alles genetisch bedingt, alles entschuldigt, schaut euch doch die Schimpansen an, sie schließen keine Ehen, sie schweifen und bleiben mobil.
    Daß sich, während er sprach, zwei Fliegen auf seiner Kopfhaut paarten, schien Loos nicht zu merken. Er ist, schloß ich auch daraus, seltsam erregt, ich muß besänftigen. Er glaube doch wohl nicht, daß ich Jurist geworden wäre, wenn ich Zurechnungsfähigkeit und also Schuld in Frage stellen würde, sagte ich. Nur sei es einfach so, daß ich mich wissenschaftlicher Erkenntnis nicht verschließen könne, und diese zeige einwandfrei, wie wenig Freiraum uns die Gene ließen. Loos trank und schüttelte den Kopf und sagte, vor fünfundzwanzig Jahren habe die Wissenschaft noch einwandfrei bewiesen, daß sogar Schwachsinn lernbar sei und daß das Individuum bis in sein Mark hinein geformt, genormt und in der Regel verunstaltet werde durch
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