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Am Hang

Am Hang

Titel: Am Hang
Autoren: Markus Werner
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Einwirkungen von außen. Ich sagte, die Wissenschaft pflege nicht stehenzubleiben, ich räumte aber ein, daß die Wahrheit vielleicht in der Mitte liege. Er bat mich, ihn mit der Mitte zu verschonen, er sei zu alt für sie. Ihm schwebe jedenfalls nicht vor, bis an sein Ende höflich auf jede Seite zu nicken, und jetzt falle ihm eben eine Ergänzung ein zum vorher flüchtig Besprochenen. Wie es komme, daß die Menschen glückselig vor dem Fernseher säßen, Abend für Abend, süchtig nach dem Immergleichen, nach ihren Serien zum Beispiel, nach ihren Quizsendungen und so fort, deren Beliebtheit offenbar darin bestehe, daß sie das Immergleiche unablässig repetierten. Wie es komme, daß Hunderttausende auf den Schnauzbart eines Moderators oder Talkmasters fixiert seien und ein Aufheulen durchs Land gehe, wenn der Moderator oder Talkmaster urplötzlich ohne Schnauzbart auftrete. Wie sich erklären lasse, daß sich der Wunsch nach ödester Gleichförmigkeit nur vor dem Bildschirm rege, nicht aber im restlichen Ehealltag. Kaum nämlich habe man sich aus dem Fernsehsessel erhoben, denke man schon an Scheidung, nur weil der Partner sich die Zähne so wie gestern putze und anschließend gurgle wie immer. Wonach, Herr Clarin, steht unserer Natur nun eigentlich der Sinn?
    Die Frage schien mir nicht einfach. Ich sagte, im Augenblick sei mir ein wenig kühl, ich wolle schnell die Jacke aus meinem Wagen holen, ob er mich kurz entschuldige. Nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren, sagte Loos, soweit sind wir uns einig, vielleicht fällt Ihnen noch weiteres ein. – Er sah mich erwartungsvoll an, als ich zurückkam, und fragte: Und? – Ich sah mich als Gymnasiast vor der Wandtafel stehn, den Blicken der Klasse ausgesetzt, auf das erwartungsvolle Und des Lehrers mit einem Blackout reagierend. Ob mir nicht gut sei, fragte Loos. Doch, sagte ich, ich sei mir nur Sekunden lang so vorgekommen wie früher, als ich vom Lehrer geprüft worden sei. Um Gottes willen, rief Loos, das tut mir leid, nichts liegt mir ferner, als den Lehrer zu spielen, ich habe aus ehrlicher Neugier gefragt, Sie sind ein junger Mann mit einem anderen Horizont, mit einem anderen Wissen, ich aber bin ein älterer Herr und nicht frei von Verhärtungstendenzen, weshalb ich mich höllisch bemühen muß, ein bißchen belehrbar zu bleiben. – Er schwieg. Ich überlegte mir eine Antwort. Im Tiefsten aber, sagte er gedämpft, bin ich nicht aufgeschlossen, das ist der Fluch der Treue. – Er gebe mir damit das Stichwort, sagte ich, es sei womöglich so, daß unsere Natur nach beidem verlange, nach Festem und nach Flüssigem, nach Wiederholung und nach Abwechslung, nach Halt und Haltlosigkeit. Loos sagte, er würde meine Diagnose unterschreiben, wenn sie nicht gar so überzeugend klänge. Es sei mir bewußt, sagte ich, daß alles komplexer sei. Auch das leuchte ein, meinte er.
    Der Kellner wechselte die Aschenbecher. Man hörte fernes Donnern, ich hob den Kopf und sah nur Sterne. Loos’ ausgedrückte Zigarette glühte weiter, ein Rauchfähnchen stieg von ihr auf, und wieder dachte ich an Valerie, der es nie gelungen war, eine Zigarette im ersten Anlauf auszulöschen. Er könne sich täuschen, sagte Loos jetzt, aber an der Art, wie ich meine Brille geputzt hätte, glaube er gesehen zu haben, wie selbstverständlich ich im Leben stünde, ob seine Vermutung stimme. Er spinnt wohl doch ein wenig, dachte ich und fragte zurück, ob er die Art und Weise meines Brilleputzens noch etwas präzisieren könne. Eben selbstverständlich, sagte er, halt wie nebenbei und ohne alle Angst, daß eins der Gläser springen könnte, daß Ihnen Ihre Brille aus den Händen fallen und in die Brüche gehen könnte. – Von dieser Angst sei ich tatsächlich frei, sagte ich, und wäre ich es nicht, so stiege die Wahrscheinlichkeit, daß das Befürchtete einträte. Das sei wie mit dem Stolpern. Wer sich in ständiger Angst zu stolpern fortbewege, der stolpere garantiert, kurzum, es sei mir völlig fremd, die Dinge des Lebens schwerer als nötig zu nehmen, insofern habe er sich nicht getäuscht. – Das klinge zwar plausibel, sagte Loos, und trotzdem sei er überzeugt, daß man weit häufiger aus mangelnder Achtsamkeit stolpere als aus Angst vor dem Stolpern. – Er möge mich nicht auf das Stolpern festlegen, bat ich ihn, ich hätte einfach sagen wollen, daß man Unglück gleichsam herbeifürchten könne, was überhaupt nicht heiße, daß es nicht auch das andere Unglück gebe, das uns als Blitz
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