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Am Hang

Am Hang

Titel: Am Hang
Autoren: Markus Werner
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Mann, aber die Masse wirkte nicht so, als schwappe sie über die Körpergrenze, sie wirkte kompakt. Ich schätzte ihn auf gut fünfzig. Als mir der Kellner die Karte brachte, bestellte der Fremde mit tiefer, leicht näselnder Stimme sein Essen. Eine Karaffe mit Weißwein stand bereits vor ihm, er griff jetzt nach seinem Glas und trank es, den Blick wieder auf die Hügel gerichtet, langsam aus. Von mir nahm er keine Notiz. Ich blätterte in der Karte, mein Zeigefinger blieb auf dem Filetto di coniglio stehn, und ich erschrak ein wenig. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht eine Sekunde an Valerie gedacht und daran, daß wir beide hier vor längerer Zeit Kaninchenfilet gegessen hatten, Valerie noch munter, ich eher würgend und wortarm, da innerlich damit beschäftigt, mir schonende Sätze zurechtzulegen, ich wollte mich trennen von ihr.
    Die Sonne sank, und während der See unter uns schon an Farbe verlor, funkelte der Wein in der Karaffe des Fremden. Welch ein Goldgelb, hörte ich mich sagen, darf ich fragen, was Sie trinken? – Er wandte sich mir zu, verzögert, und schaute mich so an, als nähme er mich jetzt erst wahr. Nicht abweisend, nicht unfreundlich, nur überrascht sah er mich an mit hellgrauen Augen, unter denen, es ist mir sofort aufgefallen, Schatten lagen. Es waren keine Übermüdungsringe und keine Tränensäcke, es war die dunkle, wie hingehauchte Tönung der Haut, die ich bisher fast nur an indischen Menschen beobachtet hatte. Entschuldigung, sagte der Fremde, was haben Sie gefragt? – Ich will Sie nicht stören, sagte ich, ich habe nach dem Wein, den Sie trinken, gefragt. – Es ist ein Weißwein, sagte er. Obwohl ich nicht unbedingt annahm, daß er mich auf den Arm nehmen wollte, wehrte ich mich und sagte: Das sehe ich irgendwie. – Wie bitte? fragte er. Ich biß mir auf die Lippen und fragte, ob er mir seinen Wein empfehlen könne. Er überlegte eine Weile und sagte dann: Wir haben ihn immer als stimmig empfunden.
    Ich bestellte Saltimbocca mit Reis, so wie mein Gegenüber, und einen halben Weißen. Mein Gegenüber rauchte abgewandt. Ich schloß nicht aus, daß wir uns beide nur halb verstanden hatten, von Stille konnte nämlich keine Rede sein an diesem Ort. Nicht nur umgab uns Geklapper und Stimmengewirr, es landete und startete unten in Agno von Zeit zu Zeit auch ein Flugzeug mit üblichem Gedröhn, und selbst der ferne Autolärm im Tal, vom See verstärkt und reflektiert, war hier oben noch als Rauschen vernehmbar. Als mein Wein kam, nutzte ich die Gelegenheit, um mich dem Fremden erneut zu nähern – ich bin ein kontaktfreudiger Mensch und finde es unnatürlich, zu zweit an einem Tisch zu sitzen und zu schweigen –, ich hob mein Glas und sagte: Zum Wohl, mein Name ist Clarin. – Er zuckte zusammen, so daß die Zigarettenasche, die abzustreifen er vergessen hatte, auf seine Serviette fiel. Er griff mit der linken Hand nach seinem Glas und sagte: Freut mich. – Aber darauf, sich seinerseits vorzustellen, schien er verzichten zu wollen. Ich sah, daß er am Ringfinger zwei Ringe trug, schlichte Eheringe, und folgerte daraus, daß er wahrscheinlich Witwer war. Ein Anhaltspunkt immerhin, sagte ich mir, wenn er sich sonst schon nicht erschließen läßt wie andere Menschen, die man nach einer Viertelstunde, auch ohne mit ihnen zu reden, ein wenig einordnen kann, zumindest in die Rubrik sympathisch oder unsympathisch. Doch selbst in dieser Hinsicht kam ich zu keinem Urteil. Ich wußte nur: er interessiert mich. Ich mußte wieder an Valerie denken, an ihre Undurchsichtigkeit, die mich am Anfang fasziniert und gegen Ende abgestoßen hatte. Da fragte mich mein Gegenüber: Wie finden Sie ihn? – Nun zuckte ich zusammen. Den Wein? fragte ich. Nein, sagte er, den Blick, den Ausblick. – Ich sagte, ich fände ihn schön, gerade auch jetzt, wo die Sonne untergegangen sei und das Panorama gegenüber nur noch aus dunklen Blautönen bestehe, im übrigen sei mir die Landschaft seit Jahren vertraut. Er nickte befriedigt, er sagte: Seit Jahren vertraut – das ist eine einnehmende Wendung, und was die Blautöne angeht: Sie sind nicht etwa Maler? – Nein, sagte ich, ich bin Jurist, Anwalt, und Sie? – So, sagte er mit einer leichten und, wie mir schien, fast verächtlichen Dehnung, auf die Gegenfrage ging er nicht ein, er hatte sie wohl überhört, weil eben das Essen gebracht wurde.
    Bevor er zu Messer und Gabel griff, senkte er den Kopf und schloß ganz kurz die Augen. Natürlich, dachte ich, er ist ein
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