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Am Hang

Am Hang

Titel: Am Hang
Autoren: Markus Werner
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Wirtschaftsblatt gelesen, daß sich gelebte Menschlichkeit am Arbeitsplatz und überhaupt empfehle. Es bahnt sich also, habe ich gedacht, eine neue Menschlichkeit an. Dann habe ich weitergelesen und einen Ausschlag bekommen, ich meine auf dem Unterarm. Sie zahle sich aus, die Menschlichkeit, hieß es, sie bringe Wettbewerbsvorteile, sie steigere die Produktivität, und Sie, Herr Clarin – hier verlor Loos die Beherrschung und schlug mit der Faust auf den Tisch –, Sie unterstellen mir, daß ich die Welt aufgrund von Hygienebeuteln und von Handys hasse.
    Loos faßte sich sofort wieder und entschuldigte sich für seinen, wie er sagte, Impulsdurchbruch. Ich fragte ihn sanft, ob er wirklich den Eindruck habe, in einer verdorbeneren Zeit zu leben als vor fünfundzwanzig oder dreißig Jahren. Er habe bereits erwähnt, antwortete Loos, daß sich der Tränenblick zurück verbiete. Jede Zeit sei auf ihre eigene und neue Art verdorben, wobei es allerdings Epochen gebe, die den Ehrgeiz hätten, die anderen an Schwachsinn oder Niedertracht zu überbieten. Grundsätzlich aber betrachte er Geschichte durchaus nicht als Verfallsgeschichte, das heiße als Prozeß zum immer Verfehlteren hin, freilich auch nicht als Heilsgeschichte, in deren Verlauf sich alles zum Besseren wende, vielmehr verstehe er historische Entwicklung als hektischen Austauschprozeß. Schwinde ein Übel von gestern, so werde es heute durch ein neuartiges sofort ersetzt. Es sei wie mit der Maul- und Klauenseuche: kaum scheine sie ausgestorben, beginne der Rinderwahnsinn. So laufe alles, und die Summe der Übel bleibe sich ungefähr gleich, und zwar auf hohem Niveau trostlos, nur setzten sie sich heute rascher und flächendeckender durch dank der globalen Kanonaden, so daß innerhalb weniger Wochen fast jedes Kind mit einem Gameboy spiele und fast jede Frau sich praktisch über Nacht in eine phosphoreszierende Radlerhose stürze beziehungsweise, sobald ein anderes Diktat erfolge, in Dreiviertelleggings mit Raubkatzendruck. Das seien zwar eher harmlose und bereits wieder verstaubte Beispiele, doch anschaulich seien sie trotzdem.
    Ich fragte Loos, ob seine Frau je Radlerhose oder Leggings getragen habe. Loos verneinte. – Sehen Sie, das ist es, was mich stört, sagte ich, Ihr Urteil ist immer pauschal. Sie halten die Radlerhose für ein Übel, gut, das ist Ihr Recht, aber Sie tun so, als sei das Übel allgegenwärtig, als gäbe es nichts anderes mehr daneben. Ich bin überzeugt: wenn Sie neun prächtige Rosen bekommen, dann sehen Sie nur die eine, die etwas lädiert ist, und lobt jemand die acht intakten, so halten Sie ihn für blind oder blöd. Wer so wahrnimmt wie Sie, muß zwingend zu einem verheerenden Weltbefund kommen, und man fragt sich, wie und warum er es aushält in dieser Finsternis. – Wenn Sie, antwortete Loos, die Wirklichkeit mit einem Rosenstrauß vergleichen, dann wahren Sie doch bitte und wenigstens die Proportionen. Von Ihren neun Rosen sind nämlich acht beschädigt, und höchstens eine ist heil. Wer nimmt nun angemessener wahr: der, der den bedenklichen Zustand des Straußes sieht, oder jener, der mit Entzücken das eine Röslein preist, an dem nichts auszusetzen ist? – Unabhängig davon, sagte ich, ob Ihre Proportionen stimmen, fällt eine Antwort leicht: am angemessensten nimmt jener wahr, der beides sieht, denn am Verfehlten schärft sich der Blick für das Gelungene und am Gelungenen für das Verfehlte. – Nicht schlecht, nicht schlecht, sagte Loos, nur etwas zu einfach vielleicht, Sie vergessen den springenden Punkt, ich will ihn gern an Ihrem Beispiel demonstrieren. Nehmen wir an, vier Rosen seien objektiv in schönster Verfassung und fünf seien objektiv versehrt. Wenn man nun meinen würde, das sähen alle so, weil es so augenfällig ist, so läge man falsch. Man braucht den Leuten nämlich nur so intensiv wie möglich einzuhämmern, die Versehrten Rosen seien Prachtexemplare, so paßt sich die Wahrnehmung an, und die Leute empfinden das Welke als frisch und umgekehrt. Nie alle natürlich, aber gewöhnlich so viele, daß jene, die ihren eigenen Augen und ihrem eigenen Urteil trauen, sich fremd zu fühlen beginnen und sich sogar fragen, ob sie am Ende Schwarzseher seien, Nörgler und Wichtigtuer. – Entschuldigen Sie, Herr Loos, aber wenn in der pluralistischen Jetztzeit jemand mit der Behauptung daherkommt, er wisse, was gut und schlecht und richtig und falsch sei, so ist er wirklich ein Wichtigtuer, und man muß ihm die Frage
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