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Am Hang

Am Hang

Titel: Am Hang
Autoren: Markus Werner
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stellen, woher er die Maßstäbe nimmt, die ihm, wie er glaubt, ein objektives Urteil erlauben. – Sie bestätigen mich indirekt, antwortete Loos, Sie sind auch so ein Zeitgeistreiter. Erst wird den Menschen eingeimpft, daß alles beliebig und relativ sei, und dann erklärt man jene, die auf Verbindlichkeit bestehen, zu Wichtigtuern beziehungsweise, was noch schlimmer ist, zu Hinterwäldlern. – Schon gut, beschwichtigte ich, es interessiert mich nun einmal, worauf Sie Ihre Werturteile gründen.
    Loos rauchte, trank und überlegte. Dann sagte er: Nehmen wir Menschen statt Rosen, und schauen wir uns um auf allen Kontinenten und in allen Zeiten. Es war und ist ein Kinderspiel, die Menschengruppe X davon zu überzeugen, daß es sich bei der Menschengruppe Y um Ratten handle, die zu vertilgen seien. Man muß es einfach laut und lange sagen und wird beliebig viele Männer finden, die nur darauf gewartet haben, zum Totschlag ermuntert zu werden. Und auch beliebig viele Frauen, die schrill und willig mitgeifern. Ich werte diesen Sachverhalt als schrecklich, und sollten Sie neugierig darauf sein, worauf ich mein Werturteil gründe, so müßte ich den Tisch verlassen.
    Daß er mir drohe, sagte ich, sei mir nicht angenehm, es sei auch überflüssig, da es mir nie in den Sinn kommen würde, jemanden zu fragen, aus welchem Grund er Unmenschlichkeit unmenschlich finde. Ich hätte ihn, Loos, nur nach den Maßstäben gefragt, mit deren Hilfe er Tendenzen der Zeit zu beurteilen pflege, Strömungen, Moden, die je nach Standpunkt die unterschiedlichsten Einschätzungen zuließen. Von Verbrechen sei nie die Rede gewesen, und was das Rattenprinzip angehe, so sei ich völlig seiner Meinung, nur hätte ich, wie schon erwähnt, den Eindruck, daß er nur noch die Schrecken auf Erden sehe, und daher auch die Frage gestellt, wie und warum er es aushalte hier. Und inbegriffen sei in dieser Frage natürlich eine andere: ob es für ihn auch Helles und Schönes gebe. – Und ob, sagte Loos, ohne sich besinnen zu müssen, und ob, Herr Clarin, zum Beispiel die Musik, zumindest bis vor kurzem, aber eigentlich immer noch trotz der betrüblichen Erfahrung, die ich gemacht habe mit ihr. Vor kurzem nämlich habe ich eine Nacht lang Mozart gehört, die heitersten, herrlichsten Sachen, und den Welthaß trotzdem nicht aus mir herausgebracht und nicht überwunden, im Gegenteil, es hat mir die Musik verdeutlicht, daß Schönheit kein Trost ist, sondern ein Beleg für den Jammer. Zwar will sie mich vergessen machen, was ringsum ist und gilt, doch ebendadurch erinnert sie daran. Oder nehmen Sie Haydns Schöpfung, man braucht nicht tränenselig zu sein, um weinen zu müssen, wenn man gewisse Stellen hört, aber man weiß nicht, ob man wegen der Schönheit der Musik weint oder wegen des erschallenden Schöpferlobs oder wegen der Kluft zwischen dem Schöpferlob und der verstümmelten Schöpfung. Hauptsache, man weint, nicht wahr, wird geschüttelt und aufgeweicht und merkt daran, daß man kein Stein ist, obwohl …
    Obwohl? – Loos schneuzte sich und sagte: Obwohl das auch wieder Nachteile hat, denn der Versteinerte lebt wetterunabhängiger, doch wie auch immer, zum Schönen, Hellen, nach dem Sie mich fragen, gehört auch die Erinnerung, ich meine die an meine Frau, an das Zusammensein mit ihr, an einzelne Stunden, Gebärden, Sätze. Es ist schön, sich an Schönes zu erinnern, nur geht auch das nicht ohne Pein, da man das Schöne nicht erinnern kann, ohne die Wunde zu spüren, die sein Verlust geschlagen hat, und nun möchten Sie also noch wissen, wie und warum ich es aushalte hier. Sie hätten auch plump fragen können, ob es für unsereins nicht sinnvoll wäre, die Selbstbeseitigung zu planen. Man denkt durchaus daran und wäre morsch genug. An Lebensingrimm fehlt es so wenig wie an der Neigung, nicht mehr mitzumachen. Und glauben Sie mir, das Zerfließen ins Nichts ist mir kein Schreckbild, ich zaudere trotzdem. Kennen Sie Kleist? Er ist mir nah, und sein alleiniges Thema war die gebrechliche Einrichtung der Welt, aber am Schluß, bevor er Hand an sich legte, ist dieser konsequente Mensch inkonsequent geworden und hat in seinem Abschiedsbrief geschrieben: Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war. Das heißt doch wohl: Es liegt nicht an der Welt, es liegt an mir und meiner Blutarmut, wenn ich mich übermüdet fühle. – Aber eben, Abschiedsbriefe sind gern verzweifelt höflich, sie nehmen die Schuld auf sich und entlasten die Welt. Müßte
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