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Am Ende der Nacht

Am Ende der Nacht

Titel: Am Ende der Nacht
Autoren: Marcia Muller
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Variante, und die machen einen auf
Selbstausdruck.«
    In meinen Augen war Teds Komposition
aus Tannengrüngewinden, blinkenden Lichtlein, roten Samtbändern, Silber- und
Goldschmuck ein Meisterwerk. War es wirklich so kreativ von dem
Dokumentarfilmer unten, seine gesammelten Schneideraumabfälle mit Flitterfarben
zu besprayen und zu einer Girlande zu verarbeiten? Verlieh es den riesigen
Projektfotos des Architekturbüros wirklich so einen künstlerischen Touch, daß
kleine, aus Illustrierten ausgeschnittene Weihnachtsmotive draufpappten? War
das Weihnachtsmanndorf vor dem Büro des Anlageberaters mehr als nur eine teure
Instant-Lösung für ein potentiell zeitraubendes Problem?
    War dieser alberne
Dekorationswettbewerb überhaupt so eine weltbewegende Sache?
    Ich warf einen Blick in Teds
gramzerfurchtes Gesicht. Ja, für ihn war er das, also würde ich mitspielen.
    Ich fragte: »Wer ist eigentlich in der
Jury?«
    »Drei knackige Heteros von der
Löschbootstation.«
    »Ich bin sicher, daß sie unsere
Dekoration am ästhetischsten finden.«
    »Feuerwehrmänner? Die merken doch
nichts von Ästhetik, und wenn sie sie in den Arsch beißt!«
    »Ach, nimm’s nicht so schwer. Am
Freitag hat die Spannung ein Ende.« Ich ging in Richtung Treppe.
    »Hey, so früh schon Feierabend? Wo
willst du hin?«
    »Zu Macy’s, F.A.O. Schwarz und ins Gap
— unter anderem. Ich muß mich für das Höllenweihnachten rüsten.«
     
     
     
     

25
    Hy und ich saßen inmitten des
Nachbescherungschaos in Raes und Rickys Wohnzimmer und tranken Sekt mit den
beiden. Überall lagen leere Kartons herum. Zerknülltes Geschenkpapier staute
sich an den Möbeln, Schleifen steckten an Lampenschirmen. Ein riesiger Baum —
ein Geschenk der Seabrookschen Weihnachtsbaumfarm — stand in der Fensternische
zum Golden Gate hinaus, und darauf saß an prominenter Stelle eine weiße
Porzellantaube, die Ricky von meiner Schwester und ihrem neuen Mann geschenkt
gekriegt hatte, als er die Kinder am Flughafen übernahm. Bis auf einen Punkt
verlief der Besuch erfreulicher als erwartet.
    Rae sagte: »Mick und Chris haben den
Ton für die anderen vorgegeben.«
    Ich nickte. Sie hatten offensichtlich
beschlossen, sich wie höfliche Erwachsene zu benehmen, und sie hatten Rae sogar
umarmt, als sie in Micks Apartment aufgebrochen waren, wo Chris sich
einquartiert hatte.
    »Außer für Jamie«, murmelte Ricky und
starrte düster in sein Sektglas.
    Rae sagte rasch: »Molly und Lisa haben
sich richtig über ihre Geschenke gefreut. Und sogar Brian ist aufgetaut und hat
mehrfach gelächelt. Er kriegt jetzt die Kurve.«
    »Jamie nicht.«
    Ich versuchte, das Gespräch von dem
mittleren der Mädchen — und Rickys Lieblingstochter — wegzulenken. »Sieht aus,
als hätten wir diese Weihnachten alle gekriegt, was wir uns gewünscht haben.
Sogar Ted hat den ersten Preis beim Dekorationswettbewerb gewonnen.«
    »Jamie hat nicht mal ihr Geschenk
ausgepackt.«
    Wir enthielten uns jeden Kommentars.
Rae tätschelte Rickys Hand; Hy ging sich um das Kaminfeuer kümmern. Und ich
merkte, wie ich langsam wirklich sauer auf meine Nichte wurde. Ich stand auf
und sagte: »Bin gleich wieder da.«
    Oben klopfte ich an die Tür, hinter der
die fünfzehnjährige Jamie seit gestern abend schmollte, und als keine Antwort
kam, trat ich einfach ein. Sie hockte auf dem Bett und hörte Walkman: eine
schlanke junge Frau mit einem feinen Gesichtchen, von einer wilden braunen
Lockenmähne umgeben. Als sie mich sah, funkelte sie böse und drehte die
Lautstärke auf.
    Ich sah mich um. Der Raum hätte ein
Hotelzimmer sein können; er wies absolut keine Spuren seiner Bewohnerin auf,
außer einem praktisch unausgepackten Reisesack auf der Kommode. Als ich Jamie
wieder ansah, ignorierte sie mich demonstrativ. Also ging ich hinüber und riß
ihr den Kopfhörer herunter.
    »He, was soll das, Tante Shar?«
    Ich wollte sie anschreien, daß sie
ihrem Vater — und sich selbst — den ganzen Heiligabend verdorben hatte. Ich
wollte sie am Arm packen und gewaltsam nach unten befördern und zu einer
Entschuldigung zwingen. Doch nichts von all dem würde das gewünschte Ergebnis zeitigen.
Also musterte ich sie und versuchte dahinterzukommen, welches Knöpfchen ich
drücken mußte.
    Schließlich sagte ich: »Ich wollte dir
gute Nacht sagen.«
    »Du gehst jetzt schon schlafen?«
    »Hm. Wir gehen alle ins Bett.«
    »Aber —«
    »Was?«
    »Ach, nichts.« Sie zuckte
wohleinstudiert die Achseln.
    »Wir hatten einen tollen Abend.
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