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Am Ende der Angst

Am Ende der Angst

Titel: Am Ende der Angst
Autoren: Martin Johannson
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und wollte ihm einen Hieb versetzen. Doch der Kerl war gewandter als erwartet. Er konnte meiner Faust ausweichen und sprang behände auf den Boden, um mit großen Schritten davonzulaufen. Ich flitzte ihm hinterher. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie Samuel um das Haus lief, um mir zu Hilfe zu eilen. Doch ich war näher an dem Flüchtenden dran. Nach einigen Sekunden hatte ich den Albaner eingeholt und warf mich auf ihn. Der Kerl wollte sich allerdings nicht so schnell geschlagen geben. Er verpasste mir im Fallen einen Stoß in die Nierengegend, der mir für einen Augenblick den Atem nahm. Meinen schwachen Moment ausnutzend, sprang er wieder hoch und rannte weiter auf den Zaun zu, der zu einem kleinen Weg hinter den Häusern führte. Schnell rappelte ich mich auf und blieb dem Kerl auf den Fersen. Er schaffte es bis zum Zaun, dann hatte ich ihn wieder eingeholt. Ich ergriff seinen Arm und riss ihn herum. Da erst sah ich, wie jung er war. Kaum älter als zwölf oder dreizehn.
    Er wollte mir einen erneuten Stoß verpassen, doch dieses Mal kam ich ihm zuvor. Mit geübtem Griff drängte ich ihn an den Zaun und drehte ihm die Arme auf seinen Rücken, so dass ich sein Keuchen an meinem Ohr hören konnte. »Bitte, bitte«, stammelte er. »Mama zu Hause, bitte frei.«
    Ich konnte mir denken, was er mir mit seinen Worten sagen wollte, und ignorierte es.  Als Samuel eintraf, verpassten wir dem Albaner Handschellen. Samuel ging zurück zum Wagen, um die Polizei per Funk über unseren Fang zu informieren, während ich bei dem Jungen blieb. Ich brachte ihn zu seinem Kollegen, der noch immer bewusstlos dalag.
    »Bitte nicht Polizei, nicht Gefängnis«, sagte der Junge erneut. »Ich Probleme, viele Probleme.«
    »Ich weiß, Freundchen, du bekommst noch mehr davon, wenn du weiter in Häuser einbrichst.«
    »Bitte nicht.«
    Er stand wie ein Häufchen Elend vor mir. Ich wusste, wie das in den Banden ablief. Der Kopf der Gruppe, meistens ein seit Jahren im Land lebender Immigrant, heuerte frisch eingetroffene Jugendliche für Straftaten an, manchmal wurden die Kinder direkt aus Südosteuropa nur zu dem Zweck zu uns geschmuggelt, Autos zu klauen oder in Häuser einzubrechen. Die ahnungslosen Eltern blieben zurück in der Annahme, der Junge könnte im Westen ein neues, erfolgreiches Leben beginnen und wunderten sich, wenn er eines Tages abgeschoben wieder vor ihrer Tür stand. Oder wenn sie von seinem Tod erfuhren. Wenn sie überhaupt jemals wieder etwas von ihm hörten. Die Bandenchefs gingen nicht gerade zimperlich mit den jungen Rekruten um. Wer nicht spurte, verschwand auf Nimmerwiedersehen.
    »Wie heißt du?«, fragte ich ihn.
    »Tarek. Bitte mich gehenlassen, bitte.«
    Es sah nicht gut für den Jungen aus. Wenn er verhaftet und verurteilt wurde, wurde er abgeschoben und musste zurück in Armut und Elend, aus denen er gekommen war. Wurde er nicht verurteilt, landete er vermutlich mit mehreren Messerstichen im Straßengraben, weil die Bandenchefs davon ausgingen, dass er sie verraten hatte. Wie auch immer ich das Blatt wendete und drehte, es gab keine rosige Zukunft für ihn.
    Ich sah auf seinen Kumpel, der noch immer reglos dalag. Er war älter als er, über zwanzig. Vielleicht musste er den Jungen anlernen, vielleicht war das heute sogar Tareks erster Bruch. So wie er sich angestellt hatte, war das sogar sehr wahrscheinlich.
    Tarek zog ungeschickt seine Schulter nach oben, um seine Nase an seiner Schulter abzuwischen.
    Ich hörte Schritte. Samuel kam zurück.
    Mit ein, zwei schnellen Schritten war ich bei dem Jungen und schnitt mit dem Messer den Kabelbinder durch.
    »Hau ab, schnell!«, zischte ich. »Und lass dich hier nie wieder blicken, sonst bring ich dich höchstpersönlich um. Such dir einen richtigen Job!«
    Tarek wusste kaum, wie ihm geschah, doch kaum hatte er begriffen, dass er frei war, rannte er davon.
    Ich wollte gerade den durchtrennten Kabelbinder vor Sam verstecken, als dieser schon um die Ecke bog. Verdutzt sah er mich an.
    »Was ist passiert?«
    »Der Kerl hatte offenbar ein Messer im Ärmel, das wir übersehen hatten. Ich hab einen Augenblick nicht hingesehen, da war er weg.«
    Samuel schüttelte den Kopf. »Du wirst langsam alt, Kumpel. Aber immerhin haben wir einen der Kerle.«
    Der Typ auf dem Boden regte sich. Mit viel Glück würde Tarek vielleicht begreifen, dass er heute einem großen Unglück entkommen war, und einen neuen Weg einschlagen. Aber selbst wenn er das nicht schaffte, so hatte er sich
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