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Am Dienstag sah der Rabbi rot

Am Dienstag sah der Rabbi rot

Titel: Am Dienstag sah der Rabbi rot
Autoren: Harry Kemelman
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einem armen Zweig der Familie angehörte, verkehrte sie nicht mal mit denen, die sie für gleichberechtigt hielt. Sie durfte es nicht. Es war eine Frage des Familienstolzes und ihrer Erziehung. Und darüber verkümmerte ihr Gefühlsleben.»
    «Ich kenne ähnliche Fälle», sagte Ames.
    «Ja, das kann ich mir denken. Eines Tages tauchte dann Hendryx auf, der als Junge aus Barnard’s Crossing fortgezogen war. Und die Hendryx’ waren aus derselben Schublade wie die Hanburys. Sie hat ihn damals gekannt, und es ist durchaus möglich, dass sie trotz des Altersunterschieds als Kind für ihn geschwärmt hat.»
    «Sehr wahr. Und nun kommt er und will von ihr angestellt werden. Er ist nicht verheiratet. Sie beschafft ihm nicht nur die Stelle, sondern sie macht ihn sogar zum kommissarischen Leiter der Abteilung.»
    «Er war dafür qualifiziert?»
    «Ja, sicher. Soviel ich weiß, war er nichts Großartiges, hatte aber gute Examen gemacht und auch einiges veröffentlicht.»
    «Warum war er dann ohne feste Anstellung, als er in Windemere auftauchte?», fragte Ames. «Wir haben festgestellt, dass er in den letzten zehn Jahren mehrfach gewechselt hat.»
    «Das könnte an seiner Persönlichkeit gelegen haben. Er war stolz und anmaßend und tendierte zu spitzen, verletzenden Bemerkungen. Vielerorts entscheiden die eigenen Kollegen über Beförderungen und Vertragsverlängerungen, und ich kann mir denken, dass diese Eigenschaften vielen Leuten gegen den Strich gegangen sind – wie bei Fine übrigens. Aber ich hatte den Verdacht, dass er hier in Windemere Fuß fassen wollte. Er war nicht mehr so jung, schon über vierzig, und wenn man sich bis dahin noch keinen Namen gemacht hat, ist es in dem Alter nicht mehr so einfach, eine Stellung zu finden.»
    Ames nickte.
    «Ich bin überzeugt, dass Miss Hanbury mit der Heirat rechnete. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie – wie hat der Sergeant das nochmal genannt? – sich von ihm hat an Land ziehen lassen. Ihr Stolz hätte auf Dauer so eine Regelung nie zugelassen.»
    Ames bestätigte das. «Als wir sie verhört haben, sagte sie, sie hätten heiraten wollen, sobald Hendryx einen festen Vertrag gehabt hätte. Dann hätte sie den Beruf aufgeben können, sie hätte es übrigens gemusst, denn hier gibt es eine Regel, dass Mann und Frau nicht gleichzeitig am College unterrichten dürfen.»
    «Ach ja.» Der Rabbi fuhr fort: «Aber solange er nur auf Zeit angestellt war, hatte sie den wesentlich besseren Job. Wenn sie also bald heiraten wollten, hätte er gehen und sie ihn unterhalten müssen. Damit hätte sie sich bestimmt nicht abgefunden, er übrigens auch nicht. Es war also eine Frage der Zeit.»
    «Aber er konnte nicht warten?»
    «Das vermute ich», sagte der Rabbi. «Hendryx muss sich gedacht haben, dass er sein Ziel über die Tochter des Präsidenten schneller und sicherer erreichen könnte. Und es hat ja auch funktioniert. Doch Millicent Hanbury war stolz, zu stolz, um sich einfach gebrauchen und dann fortwerfen zu lassen.» Er blickte nachdenklich vor sich hin. «Ich möchte wissen, wie er das geschafft hat, die eine Frau zu hofieren und die andere –»
    «Zu bumsen?» Ames lachte. «Sogar verheiratete Männer schaffen das oft spielend. Für einen Junggesellen ist es noch viel einfacher.»
    53
    «Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich Sie heute Nachmittag hergebeten habe, Rabbi», sagte Präsident Macomber, «aber Freitag nachmittags ist das Haus praktisch leer. Wir können uns privat unterhalten, ohne gestört zu werden. Aber sagen Sie mir erst, ob Ihnen der Unterricht hier Freude macht?»
    «O ja. Ich hatte heute fünfundzwanzig Studenten.»
    «Wirklich?», murmelte Macomber.
    Der Rabbi merkte, dass der Präsident keine Ahnung hatte, was er damit meinte. Er erklärte es sofort.
    «Das ist sicher die Folge Ihres guten Unterrichts», sagte Macomber höflich. Er spielte mit einem Bleistift und wirkte befangen. Endlich räusperte er sich. «Sie haben sich mit Hendryx ein Büro geteilt. Haben Sie mit ihm gesprochen?»
    «Ja, gelegentlich. Nicht sehr oft und meistens nur recht kurz.»
    «Sagen Sie mir, Rabbi», er lehnte sich im Stuhl zurück, «war Professor Hendryx Ihrer Meinung nach ein Antisemit?»
    Der Rabbi schob die Lippen vor. «Das möchte ich nicht behaupten! Er war voreingenommen, das wohl. Die meisten Menschen sind gegen die eine oder andere Gruppe eingestellt. Es ist eine natürliche Reaktion auf den Fremden, auf das Mitglied einer Minorität. Wir Juden haben
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