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Am Anfang war die Nacht Musik

Am Anfang war die Nacht Musik

Titel: Am Anfang war die Nacht Musik
Autoren: Alissa Walser
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ziemlicher Sicherheit der Vernunft. Newton ist groß. So groß, dass er sogar zugeben kann, wenn er ratlos ist. I
know there is an aether. I do not know what this aether is . Einer dieser Sätze, die Newton unschlagbar machen. Dieser Satz tickt in
Mesmer. Unablässig. Mal schneller, mal langsamer … Nur, mit Verlaub, eine winzige Anmerkung … Er will ihm ja nichts vorwerfen, aber Newton, der
Physiker … kann es sein, dass er die Einflüsse derPlaneten auf alles Lebendige ein klein wenig unterschätzte? Sich vielleicht ein
klein wenig zu sehr auf die Messgeräte verließ? Mesmer ist Mediziner. Und Mediziner müssen weiter denken. Müssen die leisesten Veränderungen im
Gleichgewichtsgefüge ernst nehmen. Auch wenn sie mit neuester Technik nicht messbar sind. Was ist ein Barometer gegen den Mond. Der wie die Wasser auch
die Lüfte hinter sich zusammenzieht und sammelt. Auch wenn die Luftfluten auf keinem Messgerät je abzulesen waren. Soll es sie deshalb nicht geben?
Lächerlich. Nein, man muss weiterdenken! Warum sind sie nicht messbar? Weil der Mond, der Schlaumeier, natürlich das Gewicht der Luftfluten, die er
zusammenzieht, gleichzeitig hebt!
    Körper spüren, wo Barometer versagen. Sie sind durchdrungen von diesen Fluten. Von dem Einen. Dem Fluidum. Dem feinsten, allerfeinsten Stoff, den das
Universum zu bieten hat. Feiner noch als der feinste Äther. Das ist Gesetz. Sein Gesetz. Und keiner soll ihm widersprechen. Vor allem nicht die Herren
Doktoren von der Akademie. Vor allem nicht sein ehemaliger Professor, sein Doktorvater und Trauzeuge Anton von Störck! Alle müssten es
anerkennen. Bauern, Priester, Rechtsanwälte, Ärzte, Musiker, Musikliebhaber, Köchinnen, Kutscher, Hausmädchen, die Kaiserin, ihr Hofstaat, ihre
Minister, ihre Sekretäre, ihre Zofen und Kammerburschen, ihre Söhne und Töchter und sämtliche Jungfern im Lande.
    Wien, die größte Stadt, in der er je gelebt hat. Ein großer Haufen Steine. Ein stinkender Haufen. Es stinkt, wohin man geht, vor allem in den brütend
heißen Sommern. Unerträglich. Und Menschen. So viele, dass man unmöglich jeden Musikliebhaber kennen kann. Es wimmelt von Musikliebhabern in dieser
Stadt! Es wimmelt von Musikern. Alle wollen nach Wien, zum Theater, zur Oper, zum Hof. Und zur Kaiserin. Sie scheint ein Magnet zu sein. Ein Magnet mit
einer Kraft, die eine ganze Stadt magnetisieren kann, eine so große Stadt wie Wien. Dabei ist Wien manchmal auch so winzig klein (und vertratscht) –
dass man mühelos alles über jeden erfährt. Mitunter mehr, als man möchte. Die neue Patientin sei arm dran, hat er gehört. Sie sei hässlich. Sie sei
schön. In ihrem Leid. Sie kleide sich unvorteilhaft. Sie spiele besser Klavier, als sie singe. Sie habe einen vollkommenen Star. Sie täusche ihre
Blindheit nur vor. Einigkeit herrscht nur in einem: Die Kaiserin schätze das Mädchen über alle Maßen, verehre sie sogar. Er wird sie heilen. Darin ist
er einig mit sich. Der Rest ist Mythos, denkt er, als der Schlitten mit einem Ruck stehen bleibt.
    Ringsum frischer Schnee. Kaum Fußstapfen darin. Er bitte ihn, doch weiterzufahren, ruft er dem Kutscher zu und schaut durchs Fenster hinaus, während
die Pferde langsam vorantrotten. Bis vor ein Haus mit gewaltiger Symmetrie und so vielen Fenstern, dass er sich wie beäugt vorkommt.
    Langsam geht er auf die dunklen Fenster zu. Und schaut hinauf zum zweiten Stock, der hell erleuchtet ist. Eine gleißende Zeile Licht, in die er schaut,
bis er das Dunkle aus den Augen verliert.

Zweites Kapitel
20. Januar 1777, 9 Uhr 15
    So muss ein Mensch empfangen werden. Von einem hübschen, wachen, schon seit dem frühen Morgen wachen Hausmädchen. Dem
     selbstverständlichsten Hausmädchen Wiens, das einem an der Tür einen Sekunden-Blick zuwirft, einen Blick, der sich kaum blicken lässt. Und die sich dann
     dreht und einen Schnörkel in die Luft winkt, der zum Tanz auffordert und fast schon zum Missverständnis. Und dann folgt er diesem hellen Nacken unterm
     hochgesteckten Haar durch die vielen dunklen Korridore, wie es sie in jedem Haus gibt. Und im Salon wird es wieder hell, und sie dreht sich zu ihm, schaut
     ihn an, als habe er ihre Augen jetzt verdient, und mindestens eine Sekunde lang. Doch sie hat harte Konkurrenz bekommen: ein Pianoforte. Und nicht nur
     eines: zwei Pianoforte im selben Salon. Mesmer kann schon kaum noch wegschauen von den Instrumenten, die da seelenruhig nebeneinanderstehen wie die Pferde
     vor der Kutsche mit offenen
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