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Am Anfang war die Nacht Musik

Am Anfang war die Nacht Musik

Titel: Am Anfang war die Nacht Musik
Autoren: Alissa Walser
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die Gnadenpension gestrichen. Jetzt aber wolle sie dringend an die Luft. Ob er sie hinausbegleite.
    Er stand auf. Sie folgte ihm durch den Gang und mehrere weite Säle Richtung Ausgang.
    Schade, sagte er, dass sie diese Pracht nicht sehen könne.
    Und sie: Ihre Mutter, ihr Auge, habe ihr all das bereits beschrieben. Sie sei sehr beeindruckt von dem vielen Gold und den vielen Gemälden. Im Übrigen, fügte sie flüsternd hinzu, sollte besagtes Auge ihnen zufällig begegnen, müsse er sich sofort unsichtbar machen. Ihre Mutter dürfe sie auf keinen Fall zusammen sehen.
    Sie hörte, wie er sich räusperte, und war nicht sicher, ob er sie verstanden hatte.
    Denn er fing von seiner Praxis an. Die so prächtige Räume habe, Säle, sagte er, mit purpurseidenen Wänden. Dort strömten täglich Patienten und Schüler ein und aus.
    Dass die Welt der Wissenschaft für seine Entdeckung nicht reif sei, habe er inzwischen eingesehen. Er konzentriere sich jetzt auf Lehre und Praxis. Er brauche keine Richter mehr. Er brauche Schüler. Und die habe er. Täglich treffe man sich in dem alten Palast an der Place Vendôme No. 16 .
    Die Fensterläden und Lampen seien so raffiniert verstellbar, dass er vierundzwanzig Stunden jede Nuance von Hell und Dunkel herstellen könne.
    Wenn der Doktor mal ins Schwärmen gerät, hört er nicht mehr auf.
    Schön, sagte sie, schön schön schön.
    Bis sie auch das nicht mehr sagte. Nicht mal mehr staunte. Über die Luxuskarossen, in denen die Patientinnen anrauschten. Den musikalischen Diener, der jene vor seiner Tür empfing und dem Doktor durch variierte Pfeiftöne signalisierte, wie wichtig die Person sei, die da gerade über die Schwelle Richtung magnetisches Baquet spazierte.
    Es klang so anders als das, was sie aus Wien her kannte.
    Ob er denn in der Praxis auch Musik habe, so wie in Wien?
    Musik?, sagte er. Ein ganzes Orchester. Sechs Geigen, eine Bratsche, eine Oboe, ein Waldhorn.
    Jeden Tag?
    Jeden Tag. Und die Glasharmonika natürlich. Die spiele er selbst. Und ein Pianoforte. Original Silbermann. Ob sie vielleicht …
    Nein, leider. Die Zeiten, in denen sie dafür noch Zeit gehabt hätte, seien vorbei. Sie werde morgen nach Versailles abreisen, und …
    Energische Schritte auf spitzen Stöckeln, die sich rasch versuchten zu nähern. Die Strecken in diesem Palast sind lang, doch sie befürchtete, viel zu kurz. Sie kannte die Hand, die ihre Wange jetzt täschelte.
    Da sei sie ja, sagte die Mutter. Man warte schon auf sie. Salieri. Und der Herr von Kempelen, der mit seinem Schachtürken jetzt Europa bereise und gerade in Paris weile. Und unzählige französische Herrschaften.
    Sie solle hier auf sie warten, sie wolle sich kurz frisch machen, sagte die Mutter.
    Stöckelnde Schritte entfernten sich so energisch, wie sie gekommen waren.

    Sie war durch die Tür hinausgetreten. Hatte tief ein- und ausgeatmet. Und nach ihm gesucht. Nach seinen Schritten, seiner Stimme. Hatte wie ein Tier im Wind gewittert. Sich flinke, geübte Augen gewünscht. Dann war sie die Treppen hinabgestiegen, über den Place Louis XV . gelaufen.
    Und fand ihn nicht.

    Sie dreht, läuft über den Platz zurück. Eine Prinzessin im dunkelroten Kleid, die Schritte zählt.
    Zwanzig bis zu den Stufen, die hinaufführen zum Palais des Tuileries .

    Hinter ihr fährt eine Kutsche ab, acht Hufe klappern davon, eine nächste kommt an, sechzehn Hufe werden vom Trab in den Schritt pariert, halten an. Leute steigen aus. Gepäckstücke werden auf die Straße geworfen. Irgendwo ticken vier Pfoten übers Pariser Pflaster. Eine Dame schreit, Attention !
    Und eine Männerstimme, Mon Dieux! Le Diable!
    Sie entfernt sich vom geschäftigen Pariser Rauschen. Steigt langsam die Stufen hinauf. Freut sich, dass der Doktor da war. Und wieder weg ist. Und über ihr Konzert. Und den Abend. Und ihre Freude. Und etwas Feuchtes berührt ihre Hand, die sie jäh zurückzieht. Das Nasse, Weiche, Schniefende, das um sie herumtanzt, sich in ihrem Kleid verfängt, fällt selbst fast die Treppe hinab. Reißt sie fast mit.
    Eine Männerstimme nähert sich. Sie solle aufpassen. Diesen schwarzen Teufel werde man nicht mehr los. Ihn verfolge er seit Wochen. Und er schwöre bei Gott, sein Hund sei es nicht.
    Ihrer auch nicht, ruft sie zurück.
    Und er: So benehme er sich aber. Am besten, er erschieße ihn endlich. Hier und jetzt.
    Nein, nein, schreit sie. Sie wisse, wohin er gehöre.
    Der Hund, der in seiner Freude niesen und wieder niesen muss, folgt ihr hinüber
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