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Am Anfang war die Nacht Musik

Am Anfang war die Nacht Musik

Titel: Am Anfang war die Nacht Musik
Autoren: Alissa Walser
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Blick zu begegnen. Herr Prof. Dr. Anton von Störck. Der seine Studenten stets warnt vor dem Schlaf, vor dem
Müßiggang. Und hatte sich der Student Mesmer nicht besonders angesprochen gefühlt von diesem Thema? Er, ein Student und über dreißig Jahre alt. Die
Doktorarbeit erst mit dreiunddreißig. Der ewige Student, eine Gattung, über die seine Eltern oft gespottet hatten. Zu der sie auch ihn gerechnet
hatten. Angenehm war das nicht. Er hattetatsächlich eine Ewigkeit studiert. Erst Theologie und Mathematik, dann Jura und Philosophie,
dann Medizin. Die bewährte Kombination. Mustergültig. Faulheit konnte ihm keiner vorwerfen. Auch wenn er immer gut geschlafen hat. Aber Professor Störck
macht keinen Unterschied zwischen Schlafen und Faulenzen. So wie er keinen Unterschied macht zwischen Mesmers neuer Methode und dem, was irgendwelche
Okkultisten, Astrologen und Scharlatane sich ausdenken. Seine Doktorarbeit hatte Störck noch akzeptiert. Auch wenn er geschluckt hatte, als er den Titel
las. De planetarum influxu in corpus humanum . Über den Einfluss der Planeten auf den menschlichen Körper. Bis Mesmer ihm erklärt hatte, dass es
ihm nicht um Horoskope gehe, sondern um eine wissenschaftliche Untersuchung darüber, wie die Gestirne sich auf die Erde auswirkten. Am Ende hatte er den
Baron halbwegs überzeugt. Zumindest setzte der seine Signatur unter die Arbeit. Seither durfte Mesmer sich Doktor der Medizin nennen.
    Aber am frühen Morgen an Herrn von Störck denken! Miserabler kann ein Tag nicht beginnen, als mit dem Gedanken an seinen ehemaligen Professor. Dem er
einst so sehr vertraute, dass er ihn, auf Wunsch Annas, sogar zum Trauzeugen machte. Jetzt wird er ihn nie wieder los. Und auch dieser Gedanke bleibt
selten allein: Wie im wahren Leben vermehren sich das Unangenehme und das Unangenehme zu Unangenehmem. Was so früh am Morgen besonders unangenehm auf
den Magen schlägt. Prof. Ingenhouse, der berühmte Pocken-Impfer aus London, fällt ihm ein, Mitglied der Königlichen Akademie. Zu Mesmers Entdeckung
äußerte er öffentlich: Nur das Genie eines Engländers sei imstande, eine solcheEntdeckung zu machen. Es könne sich also um nichts
Wesentliches handeln. Und jetzt impft Mr. Ingeniös die Wiener gegen die Pocken! Ohne sich um die Folgen zu scheren. Und Dr. Barth, der berühmte
Starstecher, und wie sie alle heißen. Die ganze Mediziner-Mischpoke, die ihn nicht gelten lässt und seine neue Heilmethode schon gar nicht. Die ihn
vernichten wollen. Jetzt, an diesem frühen Morgen an sie denken, denkt er, ist Selbstvergiftung. Gedanken, denkt er, sind wie Arznei. Falsch dosiert,
und man geht zugrunde daran.
    Er trabt los, durch den großen Behandlungssaal. Der Hund, vor Freude über den Tempowechsel, springt an ihm hoch. Mit einer Hand wehrt er ihn ab,
während die andere in der Tasche des Hausrocks nach dem Schlüssel zum Laboratorium tastet. Und ein Ledersäckchen findet – es ist leer. Das Mädchen
wüsste, wo der Schlüssel ist, aber wo ist das Mädchen. Ruft er sie, ruft er das ganze Haus wach. Leise fluchend gelangt er in den hinteren Flur: die Tür
zum Laboratorium. Steht offen!
    Der Schlüssel zum geheimsten, zum wichtigsten Raum im Haus steckt im Schloss! Von innen. Weiß Gott, wer das verbrochen hat. Glück für Kaline, dass der
Schlaf sie verschluckt hat. Der Hund, wie immer vornweg, steht schon beim Fernrohr. Und wie er sich freut. Dieses mächtige Wedeln. Wie er lächelt. Sein
lächelnder Hund. Wie lächerlich, denkt er und sieht Hundehaare durch die Luft schweben, Richtung Mikroskop! So gern er dieses freundliche Hundegesicht
hat, er scheucht ihn hinaus. Dann wandert sein Blick die bekannten Geräte ab, das Fernrohr, die Elektrisiermaschine bis hin zu der Wand, an der, wie die
Jagdtrophäen in der Försterstube seines Vaters früher, die Magnete hängen. Längliche, ovale, runde, nieren- undherzförmige. Ein Stück
neben dem anderen füllen sie das Feld, lückenlos. Will heißen: Alle sind da, keiner fehlt.
    Er holt tief Luft. Nimmt einen frischen Arztkittel aus dem Schrank, dem Anlass entsprechend den hechtgrauen aus Seide. Den mit den goldenen
Tressen. Dazu weiße Strümpfe. Er tauscht den Morgenrock gegen frische Sachen und tupft sich Blütenwasser auf die Stirn. Pflückt zwei ovale und den
herzförmigen Magneten von der Wand, trägt sie zum Holztisch vor dem Fenster, reibt sie mit einem Seidentuch.
    Die ganze Nacht hat es gestürmt und geschneit. Im Schein der Hoflampe sieht er, dass noch immer
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