Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Anfang war die Nacht Musik

Am Anfang war die Nacht Musik

Titel: Am Anfang war die Nacht Musik
Autoren: Alissa Walser
Vom Netzwerk:
Schnee fällt. Vereinzelte winzige Flöckchen im
Lichtkreis, als wollten sie nie zu Boden, ewig nur in der Luft tanzen. Wie Jungfer Ossine, von ihren Ängsten umhergewirbelt wie ein Flöckchen vom
Wind.
    Bestimmt hat sie wieder so eine teuflische Nacht gehabt. Nachts war ich einsam. Und die Einsamkeit gewährte dem Teufel Einlass . Das sind ihre
Worte. So drückt Jungfer Ossine aus, dass sie nicht besser sprechen kann als denken und nicht besser denken als ihre eigne Großmutter.
    Aber er, warum hat er ihre flockigen Formulierungen im Kopf. Es müsste umgekehrt sein. Sie müsste die seinen in sich herumtragen. Nichts ist, wie es
sein soll an diesem frühen Morgen. Wörter von irgendwoher ziehen ihm wie selbstständig durch den Kopf. Er traut ihnen nicht. Wörter wie ohne
Bodenhaftung. Aus alter, uralter Luft gegriffen. Ungenau. Unwahr. Wörter, die er übersetzen muss, um sich wiederzuerkennen.
    Wenn Jungfer Ossine vom Teufel erzählt, heißt das: Sie hat nicht schlafen können. Hat sich in ihrem Bett gewälzt.Kopfschmerzen. Dazu
ein hysterisches Fieber. Sie hat erbrochen und erbrochen, bis zum Morgengrauen.
    Das heißt, sie wird alle fünf Minuten nach ihm rufen lassen. Kurz gesagt, Jungfer Ossines teuflische Nacht bedeutet: Mesmer steht ein höllischer Tag
bevor. Vor allem da die Welt nicht nur aus Jungfer Ossine besteht. Die neue Patientin heißt Maria Theresia. Ihr Vater, der Hofsekretär, ist
Musikliebhaber. Sie selbst eine virtuose Klavierspielerin. Die Familie stadtbekannt. Auch die Kaiserin kennt sie. Und liebt sie. Maria Theresia. Er wird
sie heilen. So fügt sich eins zum anderen.
    Er schiebt die Magnete in die mit hellblauer Seide gefütterten Säckchen, zieht die Kordeln oben zu. Zwei wandern in seine Arzttasche, eines in die
Innentasche seines Kittels. Er zupft den Stoff in Brusthöhe zurecht. Keiner soll etwas merken. Keiner soll fragen, warum er, der Arzt, der Kranke mit
Magneten behandelt, einen Magnet am Leib trägt. Ist er vielleicht selbst krank? Ein Kranker, der Kranke heilen will? Das ist verdächtig! Er will den
Leuten nichts erklären müssen. Sie haben keine Bildung, können ihn nicht verstehen. Anders seine Kollegen. Die könnten ihn verstehen. Aber sie wollen
nicht. Herr von Störrisch nicht und Dr. Ingeniös noch weniger. Der wollte nicht mal verstehen, als Mesmer die Jungfer Ossine vor seinen Augen
kurierte.
    Aus einem Stall war ein Schwein ausgebrochen, in panischem Galopp durch die engen Wiener Gassen galoppiert und beinahe mit Jungfer Ossine
kollidiert. Als man sie zu Mesmer brachte, war sie ohnmächtig. Gute Gelegenheit, sein Können zu demonstrieren. Er hatte Ingenhouse rufen lassen, damit
er sich von der Wirklichkeit des magnetischen Prinzipsüberzeugen könne. Er glaubte nicht, dass der tatsächlich kommen und dann auch
noch widerspruchslos ausführen würde, was Mesmer ihm auftrug. Doch von sechs weißen Porzellantassen auf dem Tisch wählte Ingenhouse eine beliebige aus,
überreichte sie Mesmer, damit dieser die magnetische Kraft auf sie übertrage. Danach trug Ingenhouse alle Tassen zu der Ohmächtigen ins Zimmer
nebenan. Als sie mit der magnetischen Tasse in Berührung kam, zuckte ihre Hand vor Schmerz zurück. Ingenhouse wiederholte den Versuch mit allen sechs
Tassen. Aber die Jungfer reagierte nur auf die eine magnetische, erwachte schließlich und fühlte sich schwach, aber gut. Prof. Ingeniös konnte es kaum
fassen. Schüttelte den Kopf, sagte, unglaublich, und wiederholte es immer wieder, als glaube er sich selbst nicht. Bis er gestand: Er sei
überzeugt. Umso erstaunter war Mesmer, dass Ingenhouse wenige Tage später öffentlich verbreitete, er sei Zeuge einer betrügerischen Demonstration
geworden. Eines abgekarteten Spiels zwischen Mesmer und einer Patientin.
    Als Jungfer Ossine, die längst wieder vertrauensselig durch die engen Wiener Gassen spazierte, zu Ohren kam, dass man sie des betrügerischen,
abgekarteten Spiels bezichtigte, verfiel sie in ihre alten Krämpfe. Da hatte Mesmer sie in sein Spital aufgenommen.
    Herr Dr. Ingeniös interessiert sich nicht für die Gesunden. Sie stoßen ihn sogar ab. Den ziehen die Kranken an, mit den schlimmen und schlimmeren
Symptomen, die er ihnen aus dem Leib herauserklärt. Aber was bringen Erklärungen. Genügt es nicht, zu heilen? Herr Dr. ist wie alle Menschen. Leicht zu
entflammen für eitle Einbildung und schwer zu erwärmenfür die Wahrheit. Die Wahrheit ist: Ein Magnet gibt die Kraft. Das braucht
Mesmer nicht zu beweisen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher