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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen
Autoren: Diana Evans
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in die Luft gestreut. Blumengedanken trieben im Nachtwind, Erinnerungen an Blattwerk und Sträuße, und durch ein wundersames Zusammenwirken drängte Denise in jenem Moment mit einer gewissen Entschiedenheit hinaus in die Welt.
    »Stimmt das wirklich, Oma?«, fragte Lucas immer, wenn sie ihre Geschichte beendet hatte. »Natürlich!«, sagte sie dann. »Ich würde euch Kinder doch nie belügen.«
    Das waren noch glückliche Zeiten. Toreth ertrug ihre letzten Jahre in einem Pflegeheim in Hanwell, nach zwei Schlaganfällen, die mit sieben Monaten Abstand gekommen waren. Am Tag ihres Einzugs gab sie Lucas einen sehnsuchtsvollen feuchten Kuss und sagte ihm mit knittrigen Lippen und seltsam schleppender Stimme: »Es ist schwer für dich, mein Liebling, so ganz allein als Junge. Halt dich auf dem rechten Weg.« Er umarmte sie lange, prägte sich den Anisgeruch an ihrem Hals ein, dann kehrte er mit Denise allein auf das Boot zurück. Lucas war verstört. Denise stoisch. Sie schloss die Kabinentüren, lehnte sich dagegen, die Finger hinter dem Rücken verschränkt, und akzeptierte ihr Schicksal in Würde.
    »Tja«, sagte sie, »jetzt sind wir beide allein.«
    »Bleiben wir hier?«, fragte Lucas.
    »Natürlich. Wo sollten wir denn hin?«
    Sie wurden, so schien es, vergessen, wie Tanzschritte, die keiner mehr tanzt. Überleben stand an erster Stelle, und Denise begab sich mit neuem Ingrimm an die Arbeit. Für vergnügliche Ausflüge entlang des Sommerkanals war da kein Platz. Ihr Wasser war keine Freiheit. Ihr Boot hatte lange nicht abgelegt.
    Mit ihnen auf dem Boot lebten etwa zweitausend Spinnen, die ihre Netze in den Fensterrahmen webten und dort eigene Kinder aufzogen. Lucas war acht Zentimeter größer als sein Vater und von ganz anderer Statur. Beine und Arme waren schlaksig und stangenförmig, die Knie spitz – in der Schule hatte er »Langhans«, »Lulatsch« und »Klassenriese« geheißen. Er war ein schlechter Esser, mochte aber spätabendliche Nachos und Brausedrops. Und wo sein Vater mit seinen sehnigen Unterarmen in einem kurzärmeligen Hemd unwiderstehlich ausgesehen hatte, ragten bei Lucas schmale Gelenke und überlange Hände hervor, und mit seinen großen platten Füßen war Tanzen auch nichts für ihn. Die Augen jedoch, braun und vogelartig, mit intensivem Blick, die waren nach Antoney geraten. Lucas trug das Haar kurz geschoren, womit er recht ansehnlich aussah, wenn auch auf bescheidene, fettnasige Art, die zudem verblasste, sobald das Haar nachwuchs. Sein Lächeln war unsicher. Eine flüchtige Freundin hatte ihm einmal gesagt, seine Ohren seien schön.
    Am Dienstag- und Donnerstagnachmittag arbeitete er unentgeltlich für West , ein regionales Musikmagazin, aber der Freitag gehörte einem zeitlosen Dahintreiben, das mit Scarface begann. Nachdem Lucas das Bett gemacht hatte, nahm er in der halbgroßen Wanne ein umständliches Bad und besprühte sich mit Axe. Dann trat er durch den brüchigen weinroten Vorhang in die Kabine und ging zur Stereoanlage, wo Scarface mit seiner tiefen, makabren Stimme schon auf ihn wartete. Er war Lucas’ absoluter Lieblingsrapper. Scarface stammte aus Houston, Texas, und war der Erste, der Einzige, der die dunklen Wände des Lebens erforschte und dennoch an einem abgeklärten East Coast Cool festhielt. Über diese summarische Einschätzung hatte Lucas oft mit Jake diskutiert, seinem alten Kumpel, dem Freund eines Wasserzigeuners, aber Jake weigerte sich, einen US -amerikanischen Rapper mit allzu viel Lob zu bedenken, denn er setzte sich für die britische Szene ein, die aktuell auch noch durch Garage in den Schatten gestellt wurde. An Scarface konnte sich Lucas nicht satthören. Über die Jahre hinweg hatte er unzählige Tapes aufgenommen, auf denen Songs in unterschiedlicher Reihenfolge, unterschiedlicher Steigerung von Rhythmus und Text waren, und manchmal befanden sich darauf auch ältere Tracks der Geto Boys und anderer Künstler, nur um zu sehen, wie die Mischung mit den Solotracks kam. Die Tapes waren mit farbigen Filzstiften beschriftet und auf einem Regal nach Code und Kategorie geordnet. Lucas trug immer einen gefalteten und zerschlissenen Zettel in der Gesäßtasche seiner Jeans herum, auf dem, von Hand abgeschrieben, die Lyrics von »The Wall« standen. Er legte das Stück ein und drückte auf die Play-Taste.
    It’s fucked up, I’m looking at myself in the mirror
I’m seein’ something scary, it’s blurry make it clearer
I got a funny feeling that today will be
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