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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen
Autoren: Diana Evans
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vielen Männern zum Verhängnis geworden war. Wie ist es dir ergangen?, hätte er ihn so gerne gefragt. So gerne hätte er sich zu seinem Vater gesetzt und gefragt: Was hast du getan, als du an den Punkt gekommen bist, wo du nicht mehr wusstest, wohin?
    In der vorigen Woche hatte Lucas in dem indischen Kiosk, in dem er auch seine Brausedrops kaufte, einen Artikel in einem Psychologiemagazin entdeckt, dem zufolge das Alter Mitte zwanzig für den Mann die produktivste, entscheidendste, aufregendste und nachhaltigste Lebensphase sei, die Zeit, in der die während Kindheit und Ausbildung erworbenen Anlagen einen Punkt der »Ausdefinierung« erreichten und den Mann – intellektuell, körperlich und geistig – an den für ihn vorgesehenen Platz im Leben führten. Er entscheidet sich, so hieß es, für eine Laufbahn. Er wird fülliger. Und meistens sucht er sich eine Frau. »All dies«, schrieb eine altmodisch bebrillte Dr. Glenda Wie-auch-immer, »kann man sich wie einen beflaggten Paradezug vorstellen, der genau dann einfährt, wenn der Mann bereit ist. Aber wenn er den Zug verpasst – und das ist der Knackpunkt –, wenn er aus irgendeinem Grund daran gehindert wird, diesen Zug zu besteigen, führt dies möglicherweise zu langfristigen Problemen, zu psychischen Nöten, Ängsten, Depressionen, die oft bis in spätere Jahre andauern können.« Die Psychologin erwähnte nicht, ob der Zug, wenn man ihn verpasste, noch einmal kam.
    Als er das mit Jake diskutieren wollte, musste sich Lucas anhören: »Ist doch Bullshit, Mann, ein Zug. Flaggen? Die meint bestimmt den Union Jack.«
    »Die Flagge is doch egal«, hatte Lucas gesagt. »Es geht um den Zug.«
    »Die Flagge is nie egal, Bro.«
    Jake hatte dann einen kurzen Vortrag über rassistisch gefärbten Nationalismus gehalten. Die beiden hatten in seinem Zimmer in einer Wohngemeinschaft auf der Basing Street einen Joint geraucht. Sie kannten sich seit der Grundschule und hatten viele Nachmittage gemeinsam auf dem nahen Hof einer verlassenen Kirche die Schule geschwänzt.
    »Guck dich doch an«, sagte Lucas. »Du bist doch schon drin.«
    »Wo drin?«
    »Im Zug. Du weißt, wo’s hingeht, was du willst, mit deiner Musik und so. Du hast doch voll den Plan.«
    Da hatte sich Jake auf seinem Stammplatz nahe der Mischpulte vorgebeugt. Lucas sah auf die muskulösen Arme, so anders als seine. »Jo, ich hab ’nen Plan, wohl wahr.«
    »Jo, dann ist doch alles easy. Musst dir keine Sorgen machen.«
    »Worüber machst du dir Sorgen?«
    »Mach ich nich.«
    »Das Leben is kurz, Mann.«
    »Das isses.« Lucas nahm einen tiefen Zug. Der Rauch schlug sanft, mit leichtem Brennen, gegen die Kehle. »Aber manche Leute haben halt keinen Plan. Ich wette, Mikey hatte keinen.«
    »Mikey is Mikey«, sagte Jake. »Der war schon immer komisch drauf. Selbst in der Schule, mit seinem Gefasel über diese Kultscheiße – weißt du noch, das Ding mit der Weltbank? Der Typ war strange.«
    »Wer ist nich strange«, sagte Lucas nach einer Weile.
    »Nein, ich meine strange strange.«
    »Das kann echt jedem passieren. Eines Tages …«
    »Hör zu, Mann, ich lass mich nicht von einem weißen Wagen abholen und in die Klapse stecken. Du weißt doch, was die mit uns Niggern da machen.«
    »Ich glaub, ich hab ihn schon verpasst.«
    »Wen verpasst?«
    »Den Zug .«
    »Hey, Mann, scheiß auf den Scheißzug – woher hast du den Mist? Nur, weil da irgendwer so ’nen Müll schreibt, lässt du dich davon kirre machen … Interessante Idee, das geb ich zu. Ganz klar ’ne wichtige Zeit für uns Typen, wo sich echt was bewegt, aber das mit dem Zug seh ich nicht. Ich seh – was seh ich? Eine Laufstrecke. Genau, eine Laufstrecke.« Jake stand auf, ging im Zimmer auf und ab, gestikulierte zur Bekräftigung mit den Armen; der Mond schien durchs Fenster. »Wir sind auf der ersten Geraden, okay, ein Drittel der Strecke, wir laufen, die Stirn glänzt, wir schwitzen. Vor uns ist ’ne Kurve, wo’s haarig wird, und jeder will vorher sein Ding machen, bevor uns der Saft ausgeht, kapierst du? Aber, hör zu Luke – das ist ’ne Oprah-Weisheit, also hör gut zu. Jeder in dem Rennen darf nur auf sich selbst sehen und auf niemanden sonst. Er kann nicht gucken, wo er liegt, wie weit die anderen sind, weil er sonst zurückfällt. Er muss sich auf seinen Lauf konzentrieren. Du brauchst nur eins, Bro, nämlich deinen Lauf , dein Ding , was, was dich anmacht, ob’s jetzt Journalismus ist oder diese Möbelsache, von der du letzten Monat
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