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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen
Autoren: Diana Evans
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the day …
    Die Musik erfüllte den Raum und hallte an den hölzernen Wänden. Wie das Bett, so war auch die Kabine zweigeteilt. Hier, auf der linken Seite, lag Lucas auf seinem gigantischen marokkanischen Bodenkissen, dort drüben, auf der rechten, würde Denise später sitzen, wenn sie von der Arbeit kam, in Toreths Sessel mit den gespreizten Beinen. Früher hatte auch ihre Mutter diesen Platz eingenommen (Denise hatte Erinnerungen daran, wie sie dort als Kind auf dem Schoß ihrer Mutter saß). Auf einem Sims gleich neben dem Sessel, unter dem Spinnenfenster, stand ein Foto von Carla mit einundzwanzig, eine Schönheit in Nahaufnahme mit schmalem Gesicht und riesigen Augen – »groß genug für eine Brücke«, wie Toreth immer sagte – und einer Unmenge dicken, waldigen Haars, das sie von ihrem Vater geerbt hatte. Sie blickte vergnügt und schelmisch in die Kamera, eine Hand am Schlüsselbein, die Fingernägel halb lackiert, halb abgeplatzt. Lucas und Denise waren mit diesem Bild ihrer Mutter aufgewachsen. Toreth hatte hin und wieder kleine Einlagen mit dem Foto geliefert, es in die Hand genommen, geküsst und manchmal auch darüber geweint, und noch Jahre nach Carlas Tod hatte ihr Lieblingskleid, ein scharlachrotes, perlenbesticktes Flapperkleid, trauernd an der Seite des Kirschholzschranks gehangen, bis Denise es eines Tages herunterriss und ins Innere warf. Um Antoney hatte es nie eine solche Trauer gegeben. Von ihm standen keine Bilder zur Schau. Von Toreths Kommentar abgesehen, dass er »ein Hutgesicht« gehabt habe, hatte Lucas bis zu seinem zehnten Lebensjahr keine Vorstellung davon, wie sein Vater ausgesehen hatte, bis ihm Denise schließlich ein Foto gab, damit er nicht länger fragte. Es zeigte Antoney als Tänzer, als attraktiven Mann mit hohen Wangenknochen, bloßen Füßen und bloßer Brust, inmitten einer Bewegung, auf einem Parkettboden. Auf der Rückseite stand »Shango Storm, 1968«. Lucas hatte nie daran gezweifelt, woher das Foto mit seinem bitteren Holzgeruch stammte.
    Unter dem Seitendeck, an der Kabinenwand, standen Antoneys Schallplatten, Benny Moré, Sam Cooke und Robert Schumann. Wenn Denise nicht zu Hause war, hörte Lucas manchmal den kratzigen alten Sam-Cooke-Song über den Mann, der an einem Fluss in einem kleinen Zelt geboren wurde, und stellte sich dabei vor, wie Antoney zu Cookes entfesselten samtigen Klängen graziös über den Kanal schwebte. Die Tatsache, dass sein Vater Tänzer war, hatte ihn immer schon fasziniert. In einem Buchladen auf der Portobello Road war er einmal in einem vergriffenen Band mit dem Titel Bühnenrevolutionen der Sechziger auf einen Eintrag gestoßen. »Antoney Matheus«, so hieß es dort, »Tänzer und Choreograf aus Jamaika, Gründer und künstlerischer Leiter des erfolgreichen schwarzen Ensembles The Midnight Ballet, zu dem auch West-End-Star Ekow Busia gehörte.« Lucas hatte den Buchhändler oft um weitere Informationen gebeten. Er hatte alle Bücher zu den Themen Tanz, Karibik, Theater, selbst die Videoabteilung hatte er durchforstet, fand aber nichts – was ihn zugleich erleichterte. Er wollte mehr wissen, aber er hatte auch Angst vor dem, was er finden könnte. Er hatte Angst, an das Gleichgewicht der ihm bekannten Welt zu rühren.
    Doch nun war die Sehnsucht da. Er wollte, dass ihn jemand an die Hand nahm. Er stand auf schwankendem Grund. Er spürte deutlich, dass etwas geschah, wenn man fünfundzwanzig und nicht mehr vierundzwanzig war. Er war nicht sicher, was das war, etwas zerfiel, ein Poltergeist zog in den Kopf. Er stand auf der linken Seite der Kabine, ließ den Blick über die Schallplatten schweifen, den Sessel, das Bild seiner Mutter und die Kajütentüren. Überall auf dem Boot begegnete er seinen Eltern, und anders als Denise konnte er nicht an ihnen vorbeischauen, vor allem nicht an diesem Tag. Worüber hatten sie sich hier unterhalten, in diesem Raum? Waren sie miteinander glücklich gewesen, hatten sie Geborgenheit beieinander gefunden? Manchmal war ihm, als würden sie jeden Augenblick wieder das Deck betreten, sie in ihrem Perlenkleid, er mit seinem Filzhut, und etwas Banales wie: »Hallo, Junge, Mensch, bist du groß« sagen. Oft stellte er sich das vor, dass Antoney einfach auftauchen und diese Worte sprechen würde. Er würde mit ihm über die Zahlen und Jahre reden, über das Gefühl, in einem Jahrzehnt der Ratlosigkeit festzustecken. Denn am Ende dieser Dekade lauerte der Abgrund zwischen neunundzwanzig und dreißig, der
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