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Als schliefe sie

Als schliefe sie

Titel: Als schliefe sie
Autoren: Elias Khoury
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hochziehen, hämmerte sie an die Tür. Sie hörte, wie Mansûr tonlos nach seiner Mutter rief. Hörte, wie er sich röchelnd erbrach. Er solle endlich öffnen, flehte sie. Eine halbe Ewigkeit verharrte sie kniend. Sie fühlte sich einsam, schwach, ohnmächtig.
    »Ich gehe jetzt hinunter und frage den Hotelbesitzer, wo der nächste Arzt ist.«
    »Nicht so laut! Der Fahrer soll nichts hören. Sonst macht er sich noch lustig über uns! Bleib im Zimmer. Mit mir ist alles in Ordnung. Geh schon ins Bett. Ich komme gleich nach!« Mansûrs Stimme hallte dumpf wie aus einem tiefen Brunnen.
    Milia konnte sich an nichts mehr erinnern. Nicht, wie sie aufgestanden war. Nicht, wie sie den Weg ins Bett gefunden und sich zugedeckt hatte. Nicht, wie sie eingeschlafen war.
    Wieso war sie jetzt nackt?
    Was hatte das Schaudern zu bedeuten?
    Milia wollte die Augen öffnen. Denn sie spürte den Tod, der immer als ein endlos langer Traum eintrifft.
    »Der Tod ist ein Traum«, hatte sie damals ihrem kleinen Bruder Mûsa erklärt. »Komm und schau, wie Oma träumt.«
    Die Großmutter lag auf ihrem Bett in weißen Tüchern. Um sie herum saßen Frauen, leise schluchzend. Keine traute sich, laut um die alte Dame zu weinen. Denn Malika Schalhûb verabscheute es, wenn jemand einen Toten beklagte.
    »Die Verstorbenen sind nicht tot! Also hört gefälligst auf zu weinen!«, hatte Malika die Trauernden zurechtgewiesen, als ihre Tochter Salma starb.
    Es war kaum dunkel geworden, da gellten Schreie durch die Nacht. Nakhla, Salmas Vater, schrie, brüllte wie ein abgestochener Stier. Nakhla sei, so hieß es, zwei Wochen nach dem Tod der Tochter dem Tränenstau erlegen, weil seine Frau ihm das Weinen verboten hatte.
    Milia erzählte ihrem Bruder Mûsa nicht, dass sie Salma im Traum gesehen hatte. Denn Mûsa war drei Jahre alt und hätte es nicht verstanden.
    In jener Nacht wurde Milia vom Weinen ihrer Mutter aus dem Schlaf gerissen. Sie ließ sich zurück in den Traum fallen, um ihre Tante zu retten. Salma, gerade zwanzig geworden, weigert sich, die Augen zu öffnen, schlummert einfach tief und fest weiter. Ein rätselhafter Traum. Was er zu bedeuten hatte, begriff Milia erst Jahre später. Erst, als sie ihre Regel bekam und träumte, dass sie fliege.
    Milia erzählte ihrer Großmutter von dem Traum. Zu dem Zeitpunkt war alles schon längst geschehen. Die Tränen unterdrückend, forderte Malika Schalhûb ihre Enkelin auf, den Traum allen mitzuteilen. Von da an begann Milia offen über die rätselhaften Dinge zu sprechen, die sie nachts sah. Mit roten Wangen und wegen der vielen Zahnlücken lispelnd, schilderte sie ihre Vision. Sie habe Salma gesehen, berichtete sie. Salma, im Garten, fällt in das Wasserbecken. Um sie herum lauter kleine rote Fische. Mit Händen und Füßen rudernd, versucht sie sich an der Oberfläche zu halten. Milia wirft ihr ein Seil zu. Salma greift danach, will sich daran herausziehen. Da entgleitet Milia das Seil. Salma liegt ausgestreckt im Gras. Milia beugt sich über sie, will sie wecken, hört die Großmutter rufen: »Nicht! Nicht wecken! Lass sie träumen!«
    Milia schrak aus dem Schlaf, zitternd. Kaum war sie wieder eingeschlafen, hörte sie die Mutter kreischen. Verstört stand sie auf und wusste, dass Salma gestorben war.
    Milia hatte nicht die Wahrheit gesagt, sondern gelogen. Sie traute sich nicht, den ganzen Traum zu erzählen. Fürchtete sich zu sagen, dass sie in Salmas Traum geschlüpft war. Dass sie Salmas Traum geträumt hatte. Keiner hätte ihr das geglaubt. Keiner hätte es für möglich gehalten, dass ein Mensch sich in den Traum eines anderen einschleicht. Nicht einmal sie selbst konnte es fassen. Was es heißt, in den Traum eines anderen Eingang zu finden, verstand sie erst im Angesicht des Todes. Erst als sie starb und das Ungesehene zu sehen bekam. Und dieses Geheimnis gab sie nur einem einzigen Menschen weiter. Dem Kind, das ihrem Bauch entschlüpft war.
    Milia legt sich neben ihre Tante ins Gras. Salmas Augen sind geschlossen und von weißem Dunst bedeckt. Milia sieht sich in den Dunst eintauchen. Sieht Salma über einem Abgrund schweben. Sie hört das Herz der schwebenden Frau schlagen. Nimmt Beklommenheit in ihren Augen wahr. Salma trägt ein Brautkleid, ein langer weißer Schleier flattert hinter ihr durch die Luft. Der Schleier fällt in das Wasserbecken. Es fängt an zu regnen. Wie in Bindfäden regnet es. Milia versucht der Frau zu folgen, schafft es nicht. Sie rennt, stolpert über ihre Füße,
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