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Als schliefe sie

Als schliefe sie

Titel: Als schliefe sie
Autoren: Elias Khoury
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stürzt. Ihr rechtes Knie ist aufgeschlagen, blutet. Milia schaut hoch. Salma entfernt sich. Immer mehr, bis sie nur noch ein weißer Punkt ist. In den Traum mischt sich ein Weinen. Milia öffnete die Augen und sah ihre Mutter. Saada saß schluchzend in der Ecke des Zimmers. Auf der Stelle erkannte Milia, dass der Tod eingetreten war. Erkannte, dass er – wie sie von ihrer Großmutter wusste – ein langer Schlaf war. Erkannte, dass sie in den Traum des Todes zu schlüpfen vermochte und seinen wässerigen Geschmack gekostet hatte. Da war sie sieben Jahre alt.
    Salma starb nicht unerwartet. Während sie, auf Ibrâhîm Hanânîjja wartend, der als reicher Mann aus Brasilien heimkehren wollte, sämtliche Brautwerber zurückwies, erkrankte sie an der damals in Beirut grassierenden Seuche. Gelbfieber. Allen war klar, dass sie sterben würde. Malika kaufte ihr ein weißes Brautkleid für den Sarg. So viel jedenfalls schnappte Milia aus den Erzählungen ihrer Mutter auf, die im Übrigen etwas Geld für das Kleid beisteuerte. Die Ereignisse überlagerten sich in Milias Bewusstsein. Diffuse Worte und Szenen schwirrten in ihrem Gedächtnis. Salmas Hochzeit nahe, hatte sie ihre Mutter einmal sagen hören. Dann war da das Bild von der Großmutter, wie sie eines Morgens zu Besuch kam und die verlorene Jugend ihrer Tochter beklagte. Was das alles zu bedeuten hatte, begriff Milia aber erst, als sie das Geschehen im Traum sah. Wie von selbst sprudelte ihr da die Geschichte durch die lückenhafte Reihe der Milchzähne aus ihrem Mund. Bis ins Kleinste beschrieb sie der Großmutter, was außer ihr kein anderer Mensch je gesehen hatte, und fürchtete im selben Augenblick ihre Reaktion.
    »Nicht doch, mein Kind! Die Träume der Toten können nur die Toten selber sehen«, sagte die Großmutter, zeichnete der Enkelin ein Kreuz auf die Stirn und ersuchte Gott um Schutz. »Möge dich das griechische Kreuz behüten, mein Kind.«
    Im Traum sah sie auch ihn.
    Sie habe, so berichtete Milia ihrer Mutter und Großmutter, Ibrâhîm Hanânîjja gesehen. Er habe Salma die letzte Ehre erwiesen. Ein kleiner, pummeliger Mann in langem grünem Mantel und braun-weißen Schuhen. Den Kopf gesenkt, als sei sein kurzer Hals zu schwach für ein solches Gewicht, habe er den Sarg haltlos taumelnd auf den Friedhof begleitet. Er sei allein gewesen, sagte Milia. Sie habe ihn angesprochen. Nein, er habe sie angesprochen. Er habe sich an sie gewandt und ihr gesagt, dass keiner ihn erkannt habe. Denn er habe sich in Brasilien sehr verändert.
    »Ich war nicht immer so klein. Aber ich habe zugenommen. Und füllige Menschen wirken klein. Vielleicht hat mich deshalb niemand erkannt.«
    Er lächelte. Gelbe Zähne kamen zum Vorschein.
    »Bist du Salma?«, fragte er.
    »Salma ist tot, und ich habe damit nichts zu tun.«
    »Ich weiß, ich weiß«, sagte er. »Aber du bist Salma, nicht wahr?«
    Sie wollte antworten. Aber die Zunge verfing sich in der Zahnlücke. Sie merkte, dass sie keine vollständigen Worte, sondern nur unverständliches Gemurmel von sich gab, und brach in Tränen aus.
    So vieles hatte sie zu sagen. Weshalb er nicht vor Salmas Tod aus Brasilien gekommen sei, wollte sie fragen. Ob er es wie alle Libanesen, die in jenes ferne Land ausgewandert sind, zu Reichtum gebracht habe, wollte sie wissen. Dass Salma seinetwegen gestorben sei, wollte sie ihm sagen. Aber sie brachte keinen Satz zustande. Die Worte zerfielen, bevor sie formuliert waren. Sie hatte das Gefühl zu ersticken.
    Ibrâhîms Bild blieb ihr im Gedächtnis haften. Sie sah in ihm ihren ersten Mann. Hatte das Gefühl, ihn zu lieben. Erkannte an den Tränen in seinen Augen, dass er alles verloren hatte, als er, heimgekehrt, erfuhr, dass die Frau, wegen der er gekommen war, im Sterben lag.
    So hätte sie Mansûr die Sache geschildert, vorausgesetzt, sie hätte gesprochen. Mansûr dagegen redete unentwegt und ließ das vielsagende Schweigen, das sich in ihrem weißen Gesicht verbarg, nicht zu Worte kommen. Und als er endlich zuzuhören bereit war, konnte sie nicht sprechen. Schmerzgequält schrie sie, rief nach ihrer Mutter, flehte, dass sie doch kommen und sie aus dem langen Traum erlösen möge.
    Als sie ihrer Mutter und Großmutter von der Begegnung mit Ibrâhîm Hanânîjja erzählte, erntete sie nur Ärger.
    »Halt den Mund, Kind! Lass uns mit deinen ständigen Träumen in Frieden!«
    »Ibrâhîm Hanânîjja war in Beirut? So ein verdammter Mistkerl!«, schimpfte die Großmutter. »Treibt sich hier
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