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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Autoren: Joern Klare
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Schließlich, die Verzweiflung im Gericht war sehr groß, fragte man ihn aber doch.
    – Der Mann konnte genau sagen, wo, in welchem Keller, in welcher Ablage diese verdammte Akte lag. Die rasten dorthin und fanden sie tatsächlich. Unglaublich. Aber dieses Gericht war einfach sein Leben.
    Nehen lächelt wieder, und ich muss an die depressiven Zustände meiner Mutter denken.
    – Ist meine Mutter depressiv, weil sie mit ihrem gewohnten Alltag nicht mehr klarkommt, weil ihre Welt zerbröselt?
    Nehen lehnt sich zurück, wiegt den Kopf.
    – Eine Depression ist im weitesten Sinne eine Stoffwechselstörung des Gehirns. Dieses »ich spüre oder merke, es stimmt was nicht, und ich werde depressiv« ist vielleicht ein Baustein, kann aber nicht die alleinige Ursache sein. Es gibt ja auch eine Menge Menschen mit Demenz, die nicht depressiv werden. Andererseits kann man die Depression anfangs durchaus mit einer Demenz verwechseln. Auch da kann die Denkleistung eindeutig beeinträchtigt sein. Das legt sich aber, wenn man die Depression in den Griff bekommt, was uns in der Regel gelingt.
    Üblicherweise, so auch bei meiner Mutter, wird versucht, mit verschiedenen Medikamenten die Symptome der Demenz zumindest abzuschwächen. Obwohl mit Mitteln wie Aricept, Exelon, Ebixa und Reminyl Milliardenumsätze erzielt werden, sollte man damit aber keine allzu großen Hoffnungen verbinden. Während einerseits behauptet wird, dass die Medikamente die Demenz im besten Fall für etwa ein Jahr ausbremsen, erklären andere Experten, dass sie den Verlauf nicht aufhalten, dafür allerdings die Befindlichkeit der Betroffenen verbessern.
    – Welche Aussichten bietet die medizinische Forschung?
    Nehen lehnt sich zurück. Die Wissenschaft, so heißt es, hat bisher etwa fünf Prozent des Gehirns verstanden. Die rund 25000 weltweit tätigen Demenzforscher mussten in den letzten Jahren immer wieder herbe Rückschläge hinnehmen. Allein zwischen 2004 und 2008 wurden 73 Projekte zur Medikamentenentwicklung gestoppt – weil die Nebenwirkungen zu groß waren oder weil die Mittel keine Wirkung zeigten.
    – Man weiß mittlerweile zwar recht genau, was da biochemisch im Hirn passiert, und hat auch einige Ideen, wie man da eingreifen könnte. Aber das sind Eingriffe in den hochkomplexen Gehirnstoffwechsel. Im Moment ist das noch eher so, als wollten Sie mit einem Vorschlaghammer eine Quarzuhr reparieren.
    Obwohl heute immer weniger Fachleute an die Möglichkeit einer Impfung glauben, hofft Nehen, dass eine solche Option vielleicht in fünfzehn Jahren zur Verfügung stehen könnte. Für meine Mutter, aber auch für ihn und mich ist es dann zu spät.
    – Kann man sein persönliches Risiko ermitteln?
    – Ja, kann man. Technisch ist es kein Problem, mit einer Genuntersuchung sein Risiko abzuschätzen. Mehr aber auch nicht.
    Während ich noch überlege, was das wohl kosten würde, rät Nehen schon ab. Wer weiß, dass er mit vierzigprozentiger Wahrscheinlichkeit eine Demenz bekommt, bekommt sie zu sechzig Prozent nicht, wird aber trotzdem sein Leben lang Angst haben.
    – Haben Sie selbst Angst, dement zu werden?
    Diesmal ist seine erste Antwort eine Pause.
    – Ich weiß es nicht. Manchmal, wenn ich sehe, wie zufrieden gut versorgte Demenzpatienten sind, denke ich tatsächlich, dass die sich keine Sorgen machen müssen, wie der Laden hier läuft und so weiter.
    Er lacht.
    – Und wenn ich es hier dann mal furchtbar leid bin, dann denke ich daran, wie es wäre, jetzt selber …
    Er lacht nicht mehr und führt den Satz nicht ganz zu Ende.
    – Aber dann habe ich auch wieder Angst und denke »Verflucht, das darf nicht sein!«
    Nehen hält immer wieder Vorträge vor interessierten Laien und hört dort häufig die Frage »Was bedeutet es, wenn ich nicht mehr weiß, wo mein Schlüssel liegt?« Eine Frage, dieich mir seit der Diagnose meiner Mutter auch regelmäßig stelle, wenn ich mal wieder nicht weiß, wo mein Schlüssel liegt. Also, was macht man, wenn man in so einer Alltagsklemme steckt?
    – Ja, dann suche ich.
    – Und wie sucht man?
    – Man überlegt zum Beispiel, wann und wo man ihn zuletzt in der Hand hatte, welchen Anzug man da anhatte oder wo man den Schlüssel normalerweise ablegt.
    Offensichtlich kochen auch Demenzexperten beim Schlüsselsuchen nur mit Wasser.
    – Ja, so ungefähr mache ich das auch. Und …?
    – Na, dann ist doch gut. Sie haben eine Struktur, wie Sie an das Vergessene rankommen. Das hat der Demente nicht. Dem geht
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