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Als könnt' ich fliegen

Als könnt' ich fliegen

Titel: Als könnt' ich fliegen
Autoren: Ravensburger
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her kam das schummerige Licht einer Straßenlaterne. Ich erinnerte mich, dass früher eine der beiden Schaukeln gequietscht hatte, und ich glaubte, dass es die war, auf der jetzt Sven saß.
    »Indirekt hat es mit Milena zu tun«, gab ich zu. »Es ist eine blöde Geschichte. Und ziemlich verworren.«
    Dann erzählte ich ihm alles von der Wette, die eigentlich nie eine gewesen war. Er hörte geduldig zu. An manchen Stellen wunderte ich mich, dass er nicht aufbrauste. Aber er blieb ruhig, bis ich fertig war. Ich hatte Recht gehabt: Ab und zu quietschte seine Schaukel. Ich versicherte Sven noch einmal, dass ich tatsächlich nicht mal den Bruchteil einer Sekunde daran gedacht hatte, Milena zum Gegenstand einer Wette zu machen.
    Er nickte nachdenklich. »Ich glaube dir«, sagte er. »Ich hab schon von diesem Typen gehört. Diesem Dennis. Ziemlich übler Bursche. Die Platte, die er dir angeboten hat, ist mit Sicherheit geklaut. Von wegen Dachboden. Es gab neulich einen Einbruch in den Secondhand-Musikladen am Bahnhof. Die meisten alten Schallplatten haben sie gleich an Ort und Stelle zertrümmert. Aber die eine oder andere haben sie vielleicht doch mitgehen lassen. Stand groß in der Zeitung.«
    Ein paar Fledermäuse zogen über dem Spielplatz ihre Kreise. Wir ließen sie nicht aus den Augen.
    »Aber irgendwie muss Milena von dieser blödsinnigen Geschichte erfahren haben«, sagte ich. »Anders kann ich mir ihr Verhalten nicht erklären.«
    »Wahrscheinlich hast du Recht. Sie war zuletzt ganz gut auf dich zu sprechen. Aber das jetzt?«
    Ich sah, dass Sven ein bisschen lächelte. Meine Augen hatten sich mittlerweile an das fahle Licht gewöhnt. Sein Lächeln verstand ich erst, als er weiterredete. »Sie hat mich anständig zusammengefaltet«, sagte er. »Weil ich so misstrauisch dir gegenüber war. Und plötzlich hab ich kapiert, dass du ihr wichtig bist. Du gibst ihr irgendetwas, das sie bisher vermisst hat.« Kaum ausgesprochen, schien ihm dieser Gedanke auch schon peinlich zu sein. »Besser kann ich es nicht ausdrücken«, fügte er hinzu. Seine Schaukel bewegte sich etwas heftiger, das Quietschen wurde lauter.
    »Ich glaube, du hast es sehr gut ausgedrückt«, sagte ich. »Mir geht es mit ihr nämlich ganz genauso. Ich bin total … verliebt.« Es fiel mir auf einmal merkwürdig leicht, dieses Wort auszusprechen.

18
    »Milena war immer das Wichtigste in meinem Leben«, sagte Sven. »Von klein auf. Ich war keine drei, als sie geboren wurde. Von Anfang an hab ich mich für sie verantwortlich gefühlt.«
    »Ihre Behinderung«, fragte ich, »hat man die früh festgestellt?«
    »Ziemlich früh, ja. Glücklicherweise. Dadurch konnte die Behandlung auch früh beginnen. Sonst hätte sich wahrscheinlich ihr gesamter Körper nach und nach verformt. So ist praktisch nur das Bein betroffen.«
    Sven schaute vor sich hin, spielte mit seiner Taschenlampe herum, steckte sie wieder ein.
    »Sie hatte es nie leicht«, fuhr er schließlich fort. »Andauernd irgendwelche Therapien. Meine Eltern rannten von einem Arzt zum nächsten mit ihr. Krankenhausaufenthalte gehörten immer dazu. Sie hat gar keine richtige Kindheit gehabt. Jedenfalls nicht so wie andere. Nichts war normal. Später kamen dann die Hänseleien der anderen dazu, teilweise ziemlich bösartig. Und überall die Blicke: mitleidig oder offen ablehnend.«
    »Wieso hat sie das mit dem Bein?«, fragte ich. Ich hörte, wie unbeholfen meine Worte klangen. Ich korrigierte mich: »Woher kommt ihr Handicap?«
    Ich hatte mal gehört, dass Behinderte in Holland Handicaps hießen. Für mich hörte sich das besser an.
    »Meine Mutter hatte einen Autounfall«, erzählte Sven, »als sie mit ihr schwanger war. Dabei hat Milena sich das Rückenmark verletzt.«
    »Obwohl sie noch im Mutterleib war?«
    Sven nickte. »Und diese Rückenmarksverletzung ist die Ursache für eine Verkrampfung der Muskulatur. Bei Milena nur in einem Bein. Glück im Unglück.«
    »Wie heißt das noch mal genau, was sie hat?«
    »Spastik«, sagte Sven. »In ihrem Fall Monospastik. Das bedeutet, dass nur ein Körperteil betroffen ist.«
    »Aber was ist das genau?«
    »Eigentlich eine Lähmung. Aber du kannst es dir besser vorstellen als eine Verkrampfung. Die Muskeln verkrampfen sich, wenn Milena sie bewegt.«
    Ich versuchte, mir das genau vorzustellen. Aber es gelang mir nur schwer.
    »Ist das eigentlich schmerzhaft?«, fragte ich.
    »Ich glaube, manchmal ja. Aber Milena ist ziemlich tapfer. Eh sie klagen würde,
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