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Als ich vom Himmel fiel

Als ich vom Himmel fiel

Titel: Als ich vom Himmel fiel
Autoren: Juliane Koepcke
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südamerikanischen Kontinent!«
    Und schon bin ich abgelenkt, blicke hinaus, immer will ich am Fenster sitzen, daran hat sich auch durch den Absturz nichts geändert. Im Gegenteil, wenn ich sehen kann, was unter mir liegt, dann bin ich etwas ruhiger. Und jetzt komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus, obwohl ich diesen Flug schon so oft erlebte. Die scheinbare Unendlichkeit des Atlantiks macht derselben scheinbaren Unendlichkeit des Amazonas-Waldgebietes Platz. Und heute ist die Sicht so klar, dass man deutlich verschiedene Flussmäander in der Sonne glitzern sehen kann. Ansonsten gleicht das Einerlei des Urwalds dem Einerlei der Wellen, sogar die Farbe ist fast dieselbe, ein verwaschenes Grün aus dieser Höhe. Damals, als ich vom Himmel fiel, da sahen die sich nähernden Baumkronen aus wie Brokkoliköpfe, einer dicht neben dem anderen. Doch daran will ich jetzt nicht denken, stattdessen erzähle ich meinem Mann, wie viel Mühen es meinen Vater nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kostete, nach Peru zu gelangen. Wenn wir nämlich stöhnen, weil uns nach zwölf Stunden Flug der Rücken wehtut und die Beine schwer werden, so ist das rein gar nichts im Vergleich damit, was mein Vater damals auf sich nahm. Und wäre er damals nicht aufgebrochen in eine neue Welt, dann wäre auch mein Leben mit Sicherheit völlig anders verlaufen.
    Alles begann im Jahr 1947. Mein Vater war ein junger, ehrgeiziger Biologe, wollte Pionierarbeit auf dem Feld der Ökologie und Tiergeografie leisten, und deshalb interessierte er sich für Länder mit einer möglichst hohen Biodiversität. Da kam Südamerika infrage, aber auch Sri Lanka. Praktisch veranlagt, wie er war, schrieb er einen Brief an die Universität in Lima. Auf Deutsch, denn Spanisch beherrschte er noch nicht. Ob man Verwendung habe für einen jungen, promovierten Zoologen? Einen ähnlichen Brief schrieb er auch nach Ecuador. Das war zwei Jahre nach Kriegsende. Ein geschlagenes Jahr später erhielt er tatsächlich Antwort vom Naturhistorischen Museum in Lima, wohin sein Brief weitergeleitet worden war. Die Antwort war so einfach, wie es seine Frage gewesen war: Ja, er könne kommen. Man habe eine Stelle für ihn.
    Es war ein Brief mit Folgen. Das Reisen im Nachkriegseuropa war eine schwierige Sache, vor allem für Deutsche. Es gab keine Pässe, also war es unmöglich, ein Visum zu erhalten. Mein Vater hatte zwar die ersehnte Stelle in Lima, aber keine Ahnung, wie er dort hinkommen sollte. Seine Studienfreundin Maria, die später meine Mutter werden sollte, teilte seine Begeisterung für die Forschung und wollte ihn auf jeden Fall begleiten. Zu meiner Großmutter sagte sie entschlossen: »Diesen Mann heirate ich. Diesen oder keinen!« Zur Jahreswende 1947/48 verlobten sich die beiden. Als mein Vater die Einladung nach Peru erhielt, war es für beide ausgemachte Sache, dass er das Angebot annehmen sollte. Maria würde einfach nachkommen, sobald sie ihre Promotion abgeschlossen hatte.
    Mit dem Schreiben aus Lima in der Tasche begab sich mein Vater in die deutsche Niederlassung einer südamerikanischen Bank. Dort riet man ihm, nach Genua zu reisen, um sich da einzuschiffen. Es gäbe Schiffseigner, die deutsche Auswanderer umsonst mitnehmen würden. Also beschloss mein Vater, diese Möglichkeit zu versuchen. Mitten im Winter fuhr er nach Mittenwald, wo er schnell herausfand, dass er allenfalls illegal nach Italien einreisen konnte. Beim ersten Versuch, den österreichischen Grenzzaun zu übersteigen, stürzte er unglücklich und musste nach Innsbruck ins Krankenhaus gebracht werden. Wieder genesen, ließ er sich nicht von einem zweiten Versuch abhalten. Dieses Mal kroch er praktischerweise unter dem Zaun hindurch. Dann überquerte er zu Fuß und per Anhalter die Alpen und gelangte auf abenteuerliche Weise nach Genua. Wie groß war seine Enttäuschung, als er im Hafen erfuhr, dass gerade eben ein Dampfer nach Südamerika abgelegt hatte. Niemand wusste, wann der nächste eintreffen würde. Mein Vater gehörte aber nicht zu jenen, die sich mit Warten begnügen. Er reiste weiter nach Rom, wo es ihm gelang, vom Vatikan einen Rotkreuzpass ausgestellt zu bekommen. Dieser, sagte man ihm, würde seine Reise erheblich vereinfachen. Aber Rom war voller Deutscher, die bereits Wochen und Monate auf eine Gelegenheit warteten, nach Südamerika zu gelangen. Vater erfuhr, dass die Chancen in Neapel besser standen. Also wandte er sich zu Fuß nach Süden. Doch unterwegs nahm man ihn gefangen und
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