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Als ich vom Himmel fiel

Als ich vom Himmel fiel

Titel: Als ich vom Himmel fiel
Autoren: Juliane Koepcke
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dann stand Weihnachten vor der Tür, und zu meinem großen Schrecken musste ich in einem Singspiel als Engel mitwirken, obwohl ich mich mit Händen und Füßen dagegen wehrte. Ich war ein schüchternes Kind, und dann stand ich auf einmal mit goldenen Flügeln auf einer Bühne, und alle fanden mich »süß«!
    Ich sah meine Tante Cordula wieder, die inzwischen als Schriftstellerin in Kiel arbeitet e – und die entsetzt darüber war, dass ich alle Tiere nur mit lateinischem Namen kannte. Sah ich eine Eule in einem Bilderbuch, sagte ich: »Oh, ein Otus«, sodass sich meine Tante entrüstet zu meiner Mutter wandte und sagte: »Also wirklich, Maria. Das könnt ihr mit der Kleinen doch nicht machen.« Aber das waren die Zeiten, bevor die Tiere deutsche Namen erhielten, von denen meine Eltern die meisten ohnehin nicht mochten, weil sie sie unpassend oder irreführend fanden.
    Dies war für meine Mutter das letzte Mal, dass sie ihren Vater sah. Er verstarb völlig überraschend sechs Jahre später, da war ich gerade elf Jahre alt. Ich werde niemals vergessen, wie aufgewühlt ich war, als sich meine Mutter stundenlang in ihr Zimmer einschloss und herzzerreißend weinte. Erst als sie mir erklärte, warum sie so traurig war, beruhigte ich mich wieder. In meinem jungen Leben gab es nichts Schlimmeres, als meine Mutter weinen zu sehen.
    Sie war ein liebenswürdiger und sanfter Mensch und musste häufig den aufbrausenden Charakter meines Vaters ausgleichen. Obwohl sie nicht nur mit ihm, sondern auch mit der Wissenschaft verheiratet war, interessierte sie sich für viele andere Themen. Sie gehörte, wie bereits erwähnt, zu den führenden Ornithologen in Südamerika, und um das zu werden, braucht es viel Einsatz und eine gewisse Opferbereitschaft. Meine Mutter brachte das mit. Einmal erlebte ich etwas mit ihr zusammen, was ich nie vergessen habe. Wir waren im Urwald und beobachteten eine Sonnenralle an ihrem Nest, während uns Myriaden von Moskitos umschwärmten. Ich wollte nach ihnen schlagen, aber dann wäre dieser so seltene und scheue Vogel sicher weggeflogen. Da flüsterte meine Mutter mir ganz leise zu: »Du darfst dich jetzt nicht rühren, auch wenn du gestochen wirst.« Und so verharrten wir in der Wolke von Stechmücken mucksmäuschenstill eine Viertelstunde lang. Meine Mutter sagte auch: »Wenn du Biologin sein willst, muss du verzichten lernen.« Dieser Satz fasst sehr gut zusammen, was unsere Forschungsarbeit ausmacht. Sie und mein Vater ergänzten sich perfek t – als sie starb, war er nicht mehr derselbe. Da war er nur noch halb. Auch für mich war es unsagbar schwer. Weil meine Mutter einfach viel zu früh von uns gerissen wurde. Weil wir noch so viele Gespräche zu führen hatten, zu denen es dann nicht mehr kam.
    Unversehens geraten wir in Turbulenzen. Das ist nicht gut für mich, überhaupt nicht gut. Denn obwohl ich meine Angst vor einem erneuten Flugzeugunglück ziemlich im Griff habe, das Schütteln und Rütteln, das unser Flugzeug jetzt, hoch über dem Atlantik, erfasst, ruft sofort wieder jene Erinnerungen in mir wach. Der Alptraum jedes Flugzeuginsassen: das Dröhnen der Turbinen, das ich heute noch in meinen Träumen höre. Und dieses grelle Licht über einem der Flügel. Die Stimme meiner Mutter, die sag t …

3 Was ich von meinem Vater fürs Leben lernte

Kapitelanfang
    … »Jetzt ist alles aus!« Meine Mutter sagt das ganz ruhig, fast tonlos.
    Ich taste nach der Hand meines Mannes neben mir und zwinge mich, in die Gegenwart zurückzukehren. Das ist nie leicht, wenn die Erinnerung mich überfällt. Ist es tatsächlich die Hand meines Mannes, die ich halte? Oder ist es doch noch die Hand meiner Mutter?
    »Reg dich nicht auf«, sage ich zu meinem Mann. »Das sind nur ein paar Turbulenzen, weiter nichts.«
    Dann sehen wir uns an und müssen beide lachen. Denn uns ist natürlich klar: Ich bin es, die sich mehr fürchtet als er. Aber es fällt mir leichter, ihm den Mut zuzusprechen, der mir für einen Moment lang abhandengekommen ist. »Gut, dass du mich tröstest«, sagt mein Mann und drückt meine Hand. Von allem, was ich an ihm so sehr liebe, ist sein wunderbarer Humor manchmal das Wichtigste.
    Und dann beruhigen sich die Turbulenzen, das Flugzeug bewegt sich ganz friedlich durch die Lüfte, und ich atme mehrmals tief durch.
    Puh, diese Berg- und Talfahrt fuhr mir ganz schön in die Eingeweide.
    »Schau mal«, sagt mein Mann und deutet aus dem Fenster. »Die Küste Brasiliens! Wir erreichen den
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