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Als ich vom Himmel fiel

Als ich vom Himmel fiel

Titel: Als ich vom Himmel fiel
Autoren: Juliane Koepcke
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anderen meine Tasche. Das Haus steht in bevorzugter Lage an der Steilküste, die von der Stadt zum Pazifik hin abfällt. Damals standen in dieser Gegend lauter solche Villen. Wer dort wohnte, konnte sich viel Personal leisten. Meine Eltern aber lebten viel einfacher und wollten es auch so haben, für sie war es wichtig, »dass man bodenständig« blieb. Doch viele meiner Schulkameradinnen wuchsen mit Dienstboten auf. Mussten sie mal niesen, riefen manche gleich nach ihrem Mädchen, damit es ihnen ein Taschentuch und ein Glas Wasser brachte.
    Was war das für ein Schock, als ich bei einem meiner späteren Besuche einmal wieder in die Gegend kam und rund um das Haus meines Paten lauter Hochhäuser wie Riesenpilze aus dem Boden geschossen waren! Wie winzig duckt sich jetzt das eigentlich großzügige und geräumige Haus in den Schatten dieser architektonischen Giganten! Alle anderen Villen sind inzwischen abgerissen worden, ihre früheren Besitzer verkauften sie für teures Geld. Nur die Tochter meines Paten weigert sich standhaft, es ihnen gleichzutun. Sie änderte nicht einmal ihre Meinung, als in unmittelbarer Nachbarschaft ein Vergnügungspark errichtet wurde. Und so ist ihr Haus ein beständiger Zeuge aus den Jahren meiner Kindheit, ein Kontinuum im Wandel der Zeiten.
    Auch das Haus meiner Eltern, das Humboldt-Haus, steht heute nicht mehr. Wie in jeder Metropole dieser Welt verändern sich die Viertel auch in Lima schneller, als man es sich manchmal wünscht. Die Straßen meiner Kindheit sind zwar heute noch ruhig und siche r – doch als ich das erste Mal entdeckte, dass das Haus verschwunden war, überkam mich eine große Traurigkeit. Wenn zur Gewissheit wird, dass einem ab jetzt nur noch die Erinnerung bleibt: wie das Humboldt-Haus häufig bis unters Dach mit Wissenschaftlern wie Ornithologen, Geologen und Kakteenforschern angefüllt war. Sie kamen von überall her, aus der Schweiz, aus Deutschland, Amerika, Australien. Jedes der drei Gästezimmer hatte ein eigenes Bad, und für alle Gastforscher zusammen gab es ein riesiges Arbeitszimmer, eine Bibliothek und eine Gemeinschaftsküche. Unterstützung erhielten die Forschungsreisenden durch das Deutsche Auswärtige Amt und die 1955 gegründete Deutsche Ibero-Amerika-Stiftung, und mein Vater vermittelte in der Regel eine Art Stipendium durch das peruanische Ackerbauministerium für die Kosten vor Ort. Gingen die Wissenschaftler dann auf ihre Expeditionen, konnten sie ihre Sachen bei uns einlagern. Kamen sie zurück, hatten sie immer viel zu erzählen und zu zeigen. Für mich war das eine herrliche Zeit.
    Wie zerbrechlich dieses Glück jedoch war, das erlebten meine Eltern, als sie kein halbes Jahr nach meiner Geburt bereits eine zweimonatige Reise in den Urwald planten. Ich blieb wohlversorgt bei Tante und Großmutter zurück. Doch bereits acht Tage nach ihrer Abreise ereignete sich ein Unglück im Bergregenwald am östlichen Andenabhang. Ein LKW schleuderte ein abgerissenes Überlandtelefonkabel mit rasender Geschwindigkeit durch die Luft, und unglücklicherweise riss es meine beiden Eltern um und verletzte sie schwer. Mein Vater erlitt zahlreiche Schnittwunden und eine Gehirnerschütterung, brach sich außerdem ein Schlüsselbein und eine Rippe. Meine Mutter lag zunächst bewusstlos da und blutete stark. Es stellte sich heraus, dass sie eine Schädelfraktur erlitten hatte. Sie musste viele Wochen lang liegen und erholte sich nur langsam. An den Unfall und die Zeit danach hatte sie später keine Erinnerung mehr, auch hatte sie ihren Geruchs- und teilweise den Geschmackssinn eingebüßt. Ihr Leben lang plagte sie häufiges Kopfweh. Das hielt sie aber nicht davon ab, einmal genesen, ihren Forschungsarbeiten wieder nachzugehen. »Viel schlimmer wäre«, pflegte sie zu sagen, »wenn ich nichts mehr sehen könnte.«
    Sobald es möglich war, nahmen mich meine Eltern mit auf ihre Expeditionen. Oft fuhren wir in den lichten Bergwald von Zárate auf der Westseite der Anden, das war ein sehr abgelegener, noch vollkommen unerforschter Wald mit zahlreichen neuen Tierarten. Hier entdeckte meine Mutter eine völlig neue Vogelgattung und nannte sie »Zaratornis«. Da es sich um eine bislang unbekannte Vegetationszone handelte, fanden meine Eltern hier auch eine Menge neuer Pflanzen und sogar Bäume, die in Fachkreisen großes Aufsehen erregten. Ich kann mich noch gut an diese Ausflüge erinnern: Zunächst fuhr man weit mit dem Auto, dann ging es zu Fuß den Berg hinau f – ich
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