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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war
Autoren: Pistorius Martin
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Braun an. Die Erde rauscht davon, während ich auf die Stille lausche. Hier oben ist es so ruhig, dass wir als einzige Geräusche den Brenner des Ballons und einen gelegentlichen Vogelruf vernehmen.
    Joanna und ich legen die Arme umeinander, während die Sonne immer höher steigt – hellweiß hinter grauen Wolken, dann die Dunkelheit rosa ausleuchtend, mit orangefarbenen Lichtstrahlen dazwischen. Der Horizont vor uns, der vorher schwarz war, nimmt durch die Sonne nach und nach einen goldenen Farbton an, und wir können die Erde unter uns sehen: einen Fluss, Bäume und einen Wasserfall, der in ein Tal stürzt, galoppierende Zebras, trinkende Gnus und Warzenschweine an einem Wasserloch, Giraffen, die sich Blätter von den Bäumen zupfen.
    »Mein Gott, ist das schön!«, sagt Joanna überwältigt.
    Der Augenblick ist gekommen. Ich greife in die Tasche und hole mein Handy hervor. Auf ihm habe ich eine Nachricht aufgezeichnet, mit Worten, die ich Joanna hören lassen will. Sie schaut mich erstaunt an, als ich ihr winzige Kopfhörer reiche, die sie sich in die Ohren steckt, und dann drücke ich auf den Knopf.
    »Es gibt keine Worte, in welcher Sprache auch immer, die wirklich ausdrücken können, was ich für dich empfinde«, sage ich. »Du bist in mein Leben getreten und gabst ihm einen Sinn. Du hast meine bis dahin graue Welt mit kräftigen Farben überflutet, und mir ist, als habe ich dich schon immer gekannt. Es ist, als stünde die Zeit still, wenn wir zusammen sind. Du verleihst meinem Herzen nicht nur einen Grund, zu schlagen, sondern zu jubilieren und zu jauchzen.«
    Sie schaut mir lächelnd in die Augen, und ich drücke ihre Hand.
    »Mit jedem Tag wird meine Liebe zu dir stärker und tiefer, reicher und inniger, denn du bist innerlich und äußerlich wunderschön«, sage ich. »Und auch wenn das Leben nicht immer Milch und Honig bereithält – und zuweilen müssen wir auch etwas Salz essen –, so weiß ich doch ganz sicher, dass ich es ohne dich nicht aushalte und dass ich nicht einen Moment meines Lebens ohne dich verbringen möchte. Du bist meine Seelenverwandte, meine beste Freundin, mein Kumpel, meine Geliebte, mein Fels und meine Stärke, mein sanfter Ort, an dem ich mich in dieser verrückten Welt fallen lassen kann. Und deshalb möchte ich dich halten, dich hochschätzen, für dich sorgen, dich beschützen und dich mit allem lieben, das ich habe. Willst du mir die Ehre erweisen, mir das enorme Privileg gönnen, den Rest deines Lebens mit mir zu teilen und meine Frau zu werden?«
    Ich schiebe meine Hand in die Tasche und hole den Ring hervor. In Joannas Augen glänzen Tränen, als ich ihn ihr hinhalte – ein an einem Faden hängender goldener Ring, der im Morgenlicht glitzert.
    Sie beugt sich zu mir herüber. »Ja, mein Liefie«, sagt sie. »Ich werde stolz sein, deine Frau zu sein.«
    Sie küsst mich lange und innig, bevor sie sich von mir löst. Ich schließe sie in meine Arme, und wir schauen zum Horizont. Er breitet sich endlos vor uns aus.

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    61
Abschied
    D er Umzugskarton steht in der gegenüberliegenden Zimmerecke, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich den Inhalt sehen will. Der Karton ist bis oben hin voll mit Lego-Sachen, die ich als Kind so sehr geliebt habe. Doch besitze ich wieder die Kraft, das Phantom des Geisterjungen zu beschwören und zu sehen? Im Laufe der letzten Tage bin ich ihm so oft begegnet, dass ich nicht sicher bin, ob ich ein erneutes Aufeinandertreffen überstehe.
    Joanna und ich packen für den Umzug nach England. Wir sind sowohl die normalen Gebrauchsgegenstände als auch jene Kartons durchgegangen, die meine Eltern all die Jahre aufbewahrt haben, in denen sich vieles von dem verbirgt, was mir widerfahren ist und entmutigende Erinnerungen an die Vergangenheit wachruft: alte Röntgenaufnahmen und medizinische Gutachten zusammen mit den Handschienen, die meine Finger früher daran hinderten, sich zu Klauen zusammenzurollen; ein altes Polster, das als Auflage für die Lätzchen diente, die meinen Speichel auffingen. Während jedes Teil alte Erinnerungen in mir aufkommen lässt, hat es für Joanna meine Geschichte zum ersten Mal lebendig werden lassen. Sie hat mich ja erst kennengelernt, nachdem ich körperlich bereits erheblich kräftiger geworden war, doch jetzt kann sie sich ein Bild davon machen, wie es damals um mich stand und wie weit die vergeblichen Hoffnungen meiner Eltern gingen, deutlich sichtbar am Beispiel mehrerer Löffel mit überdimensionierten Griffen, von
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