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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war
Autoren: Pistorius Martin
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Trauer, weil ich mich nicht entsinnen konnte, ein so glücklicher Junge gewesen zu sein, und Freude, weil ich einmal genau jener war. Dann schaute ich meine Mutter an und sah, dass das Gehörte ihre Gesichtszüge hatte erstarren lassen.
    Keiner sprach ein Wort, während Joanna den Brief wieder vorsichtig in den Karton zurücklegte, den Deckel zuklappte und sagte: »Für heute haben wir genug getan. Lasst uns Schluss machen!«
    Jetzt sind wir wieder in der Garage, und ich schaue auf den Karton, in dem sich die Lego-Sachen befinden. Als Joanna ihn öffnet, erkenne ich jede Menge Teile: manche winzig klein, andere ziemlich groß, manche kaputt, andere total schmutzig. Es sind so viele, dass der Karton fast bis zum Rand voll ist, und ich weiß, dass es mindestens noch zwei weitere solcher Kartons gibt.
    »Du konntest nie genug davon bekommen«, sagt Mam. »Du hast unheimlich gerne damit gespielt. Stunden konntest du damit verbringen, irgendetwas zu bauen. Lego ging dir über alles. Du warst ein wundervoller aufgeweckter kleiner Junge.«
    In ihrer Stimme schwingt Kummer mit. Fast glaube ich ihre Tränen zu hören.
    »Ich hätte David nie erlauben dürfen, mit den Sachen zu spielen«, sagt sie. »Aber er lag mir ständig damit in den Ohren, und ich habe immer ›Nein‹ gesagt, bis ich es ihm dann eines Tages doch erlaubte. Er ging mit seinem Spielzeug nie so vorsichtig um wie du.«
    Als sie auf den Karton starrt, ist mir klar, dass sie einen glücklichen, gesunden kleinen Jungen vor Augen hat, der einst zufrieden lächelte, während er bunte Plastiksteine zusammenfügte.
    »Ich habe die Sachen deinem Bruder überlassen, weil ich mir dachte, du würdest sie nicht zurückhaben wollen«, sagt Mam leise. »Ich habe nicht erwartet, dass du jemals zu mir zurückkehren würdest.«
    Als mich meine Mutter anschaut und zugibt, dass sie ihre Hoffnung aufgegeben hatte, erkenne ich, dass die Wunden der Vergangenheit für sie in gewisser Weise noch genauso frisch sind wie damals. Während der Junge, der so begeistert mit Lego spielte, für mich lediglich ein Fremder ist, existiert er für meine Eltern noch allzu real. Er ist das Kind, das sie liebten und verloren.

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    62
Loslassen
    I ch sitze in der Farm von Joannas Mutter auf einem Bett. In wenigen Tagen geht es nach England. Joanna packt gerade die letzten Lego-Sachen ein, nachdem sie sie gewaschen hat. Obwohl ich sie mit nach England nehme, geht es mir etwas gegen den Strich, dass meine Vergangenheit so ordentlich durchforstet und wieder verpackt worden ist. Trauer hat sich in meinem Herzen breitgemacht, seit ich mein Elternhaus verlassen habe, und mit jedem Tag lastet dieser Zustand schwerer auf mir.
    Ich kann den Gesichtsausdruck meiner Mutter nicht vergessen, als sie auf meine Lego-Sachen blickte. Sie schien so verloren, so verwundet zu sein, und ich bin sicher, dass mein Vater genauso leidet, auch wenn er seine Gefühle besser verstecken kann. Ich muss ständig an sie denken, an mich selbst als den glücklichen Jungen, dem ich in den Kartons begegnet bin. Ich hatte nie eine wirkliche Vorstellung davon gehabt, wie er als Kind gewesen sein mochte, bis ich in die Kartons schaute und ein Kind sah, das Elektronik und Meccano-Baukästen liebte, dem Weihnachtsmann höfliche Briefe schrieb und seine Eltern bewunderte. Ich muss unaufhörlich an ihn denken.
    Meine Tränen kommen anfangs nur langsam, fließen leise die Wangen hinab, als Joanna den Blick hebt.
    »Martin!«, ruft sie.
    Sie richtet sich vom Boden auf und nimmt mich in die Arme. Ich atme heftig, und meine Schultern zucken, als ich an all das denke, was meine Eltern, mein Bruder, meine Schwester und ich verloren haben. Schuldgefühle packen mich, als ich an den Schmerz denke, den ich verursacht habe, und ich habe den Wunsch, dies alles rückgängig zu machen. Wenn ich meiner Familie doch nur das einfache, glückliche Leben geben könnte, das sie verdient hat. Dann macht sich Verwirrung in mir breit, als ich mich frage, weshalb meine Eltern so lange gebraucht haben, mich zu retten. Warum haben sie nicht erkannt, dass ich zu ihnen zurückgekehrt war, und wieso haben sie mich nicht vor all dem Übel bewahrt? Schließlich weine ich über all die Liebe, die sie einem Kind zuteil werden ließen, das langsam erkrankte, über die Hingabe, die sie mir seitdem geschenkt haben, und über den kleinen Jungen, dem ich gerade erst begegnet bin und den ich nie wirklich kennen werde, so sehr ich es mir auch wünschen mag. Alles, was ich von
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