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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war
Autoren: Pistorius Martin
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tun?«, jammerte sie, als wir einen herausstehenden Nagel in einem unserer Autoreifen entdeckten.
    Ich hatte keine Ahnung.
    »Sollen wir ihn rausziehen?«, fragte mich Joanna.
    Mit der Zeit wird immer deutlicher, dass sie es als gegeben voraussetzt, in meinem Inneren müsse eine lange Liste praktischer Tipps verborgen sein, aus dem einfachen Grund, weil ich ein Mann bin. Doch nachdem sich Joanna davon überzeugt hatte, dass ich keinen Rat zu bieten vermochte, bückte sie sich und zog den Nagel kurz entschlossen heraus. Als daraufhin die Luft zischend aus dem Reifen entwich und wir beobachten durften, wie dieser langsam immer mehr in sich zusammensackte, schauten wir uns an und lachten.
    »Wenigstens wissen wir jetzt, was wir beim nächsten Mal zu tun haben«, sagte sie.
    Doch es gab auch Zeiten, da erwies sie sich als etwas dünnhäutiger, was ihre Geduld betraf. Kürzlich wandte sie sich an mich, als wir uns an einem Wochenendmorgen gerade fertig machten, um zum Einkaufen zu fahren.
    »Sollen wir zuerst in den Supermarkt oder zur Apotheke?«, fragte sie.
    Ich wusste es nicht. Mir fällt es immer noch derart schwer, meine Tage zu planen, dass ich jedes Mal heilfroh bin, wenn ich Joannas Vorschlägen einfach zustimmen kann.
    »Ist mir egal«, tippte ich.
    Doch statt von ihrem Stuhl aufzustehen und sich normal zu unterhalten, wie sie es sonst tut, bewegte sich Joanna nicht von der Stelle.
    »Was ist los?«, tippte ich auf der kleinen tragbaren Tastatur, die sie mir anstelle der Alphabettafel besorgt hatte.
    »Nichts«, sagte sie.
    Trotzdem rührte sie sich immer noch nicht.
    »Sicher?«
    »Ganz sicher.«
    Schweigend saßen wir uns gegenüber.
    »Ich warte«, sagte Joanna schließlich.
    »Worauf?«
    »Dass du dich entscheidest, was wir heute Vormittag machen. Ich bin müde, und ich möchte, dass du endlich eine Entscheidung triffst. Du bist dazu in der Lage, das habe ich gesehen, wenn du arbeitest. Bei dem Kongress in Kanada hast du alle Aufmerksamkeit auf dich gezogen, und in dem Umfeld hast du dich vollkommen unter Kontrolle: Du gibst den Leuten Anweisungen und vermittelst ihnen Sicherheit, du berätst und führst sie. Jetzt will ich endlich, dass du dasselbe auch zu Hause machst. Ich weiß, dass es ungewohnt für dich ist, aber ich habe es satt, sämtliche Entscheidungen alleine zu treffen, mein Liefie! Und deshalb bleibe ich jetzt hier sitzen, bis du beschlossen hast, was wir heute unternehmen.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Doch als ich Joanna genauer betrachtete, wurde mir klar, dass sie den ganzen Tag warten würde, falls es sein musste.
    »Was hältst du davon, wenn wir zuerst in den Supermarkt gehen?«, fragte ich schließlich.
    Ohne ein Wort zu sagen, stand sie auf, und wir machten uns auf den Weg. Langsam lerne ich, eine Wahl zu treffen, was wir unternehmen oder essen sollen, zu entscheiden, ob ich Hunger oder Durst habe. Doch wenn es darauf ankommt, im Juni, also schon in ein paar Monaten, bei unserer Hochzeit eine Entscheidung zu treffen, gibt es kein Entrinnen.
    Joanna ist durch ihre Arbeit so stark gebunden, dass ich einen Großteil der Vorbereitungen übernommen habe. Sie hat schon so lange von diesem Tag geträumt, dass sie inzwischen mehr als hundert vergoldete Geschirrteile gesammelt hat, die sie für unsere Gäste benutzen wollte. Doch als wir uns dann überlegten, dass so viele Leute von weit her anreisen müssten, beschlossen wir, mal etwas ganz anderes zu machen. Und so gibt es jetzt einen schlichten Gottesdienst in einer Kirche, zu dem lediglich acht Personen eingeladen werden – meine Eltern, David und Kim, Joannas Mutter und drei ihrer Freundinnen, die in England leben. Die Trauung wird also im kleinsten Rahmen stattfinden, trotzdem bleibt mit dem Essen, den Blumen, der Ausstattung, dem Transport, den Örtlichkeiten und den Menüs noch genügend zu organisieren. Tatsächlich sind dermaßen viele Details zu berücksichtigen, dass ich eine ganze Liste mit Einzelheiten aufgestellt habe, die Joanna und ich gemeinsam durchgehen, bevor wir uns entscheiden, was wir wollen.
    Das Einzige, worüber ich nicht mehr nachdenken muss, ist der Ring, den ich vor meiner Abreise aus Südafrika für Joanna habe anfertigen lassen. Es ist ein breiter Reifen aus Gelbgold mit eingelassenen Diamanten und einer Filigranarbeit, die zwei eng aneinandergeschmiegte Miesmuschelschalen darstellt. Sie symbolisieren unsere Liebe. Denn nichts bringt Muschelschalen auseinander, sobald sie sich am Strand zu einer
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