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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war
Autoren: Pistorius Martin
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denen sie glaubten, mit ihrer Hilfe könne ich wieder das Greifen lernen.
    Manchmal versetzte es mir einen Schock, was ich da sah, denn als ich mich mit einem rasanten Tempo auf die Welt zubewegte, verblasste die Erinnerung daran, wie krank ich tatsächlich gewesen war. Obwohl ich ahne, wie hart dies für Joanna gewesen sein muss, weiß ich gleichzeitig, dass es nur eine einzige andere Person auf dieser Erde gibt, mit der ich dies hier hätte bewältigen können. Ich hätte mich zu Tode geschämt, jemand anderen all dies sehen zu lassen, und es wäre mir zu peinlich gewesen, vor anderen zu offenbaren, welch böse Erinnerungen wieder in mir hochgekommen sind. Mit Joanna neben mir hat mich hingegen lediglich ein Gefühl der Trauer erfasst, als ich den Geisterjungen wieder auftauchen sah und erkennen musste, wie jämmerlich dessen Leben gewesen war.
    Gestern eröffnete mir meine Mutter, in der Garage gebe es noch ein weiteres Lager mit Kartons, doch sowohl meiner Mutter als auch meinem Vater schien es zu widerstreben, mir diese zu zeigen. Der Grund wurde mir sehr schnell klar, als Joanna und ich sie fanden. Während die Kartons von Kim und David die Hinterlassenschaften eines Teenager-Lebens enthielten – Tonbänder mit Musik und Schulhefte, alte Poster und Kleidungsstücke – befand sich in meinen, aufgestapelt in einer Garagenecke, vergilbt und verstaubt, nur Kinderspielzeug. Es sah aus, als sei ein Junge gestorben, und man habe sein Leben schleunigst weggepackt – und dann wurde mir bewusst, dass dies ja auch der Realität entsprach.
    »Schau mal hier!«, sagte Joanna, nachdem sie einige Kartons geöffnet und darin herumgewühlt hatte. In der Hand hielt sie ein buntes Kuscheltier.
    »Er hieß Popple«, sagte meine Mutter leise.
    Ich blickte hoch und entdeckte sie im Eingang stehend, als habe sie Angst, die Garage zu betreten und zu sehen, was wir da noch alles auspacken würden.
    »Er war Martins Ein und Alles«, sagte sie.
    Ich betrachtete das Stofftier und versuchte mich an eine Zeit zu erinnern, in der ein orangefarbener Kuschelhund mit lindgrünem Haar, roten Ohren, violetter Nase und blauen Pfoten die mir liebste Sache auf der Welt gewesen war. Ich hätte mich gerne an so viele Dinge erinnert. Wie gerne hätte ich diese Art von Erinnerung, über die andere verfügen, um zu wissen, was für ein Gefühl es ist, ein Kind zu sein, das ein Spielzeug so sehr liebt, dass es dies nicht aus der Hand geben will. Doch so sehr ich mich bemühte, es gelang mir nie, auch nur den geringsten Schimmer einer Erinnerung in mein Gedächtnis zu rufen. Dort herrscht absolute Leere – nicht mal das Fitzelchen eines Bildes, an das ich mich klammern könnte.
    Dennoch war es tröstlich für mich, wenigstens den Hinweis auf eine Vergangenheit zu bekommen, von der ich mich zuweilen gefragt hatte, ob sie überhaupt existiert hatte; auch wenn mir bewusst war, welch schmerzliche Erinnerung es für meine Eltern an all das sein musste, was sie verloren hatten. Während Mam sich neben mich stellte und Joanna weitere Kartons ausräumte – ein Holzpferd, das GD für mich gebastelt hatte, das Telegramm mit der Nachricht von meiner Geburt und Schulbücher –, spürte ich den Kummer meiner Mutter. Sie sagte nichts, als Joanna ganz unten in einem der Kartons auf ein einzelnes Stück liniertes Papier stieß. Es war ein Brief an den Weihnachtsmann, den ich im Alter von acht Jahren geschrieben hatte, in akkurater und fein säuberlicher Handschrift. Ich las ihn andächtig und versuchte, mich in dem Text, den ich vor so langer Zeit geschrieben hatte, wiederzuerkennen.
    Lieber Weihnachtsmann,
    vielen Dank für die Geschenke, die du mir letztes Jahr gebracht hast. Das waren genau die Sachen, die ich haben wollte.
    Dieses Jahr wünsche ich mir zu Weihnachten: ein Skateboard, einen Meccano-Stabilbaukasten, Lego-Teile Raumfahrt, eine Trinkflasche und ein Tacho für mein Fahrrad, eine Solarzelle, ein Auto mit Fernsteuerung.
    Lieber Weihnachtsmann, auf meinem Wunschzettel steht ein Meccano-Stabilbaukasten. Wenn du so lieb bist, mir den zu bringen, kann es dann ein elektronischer sein?
    Dein ergebener Geschenke-Empfänger
    Martin Pistorius
    P . S .: Ich stelle dir ein Glas mit etwas zum Trinken hin, wenn ich kann, und auch etwas zu essen. Ich sage meinem Vater, er soll die Tannenbaumlichter anlassen. Unsere Strümpfe liegen neben dem Baum.
    P . P . S .: Außerdem eine Walkie-Talkie-Anlage.
    Ich verspürte Trauer und Freude zugleich, als ich den Brief las:
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