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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war
Autoren: Pistorius Martin
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Einheit geschlossen haben – nicht einmal die Macht des Meeres.

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    64
Warten
    I n der Kirche ist es kühl und still. Am Ende des langen Kirchenschiffs, das sich vor mir erstreckt, sitzen meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester in einer Bank; in einer anderen sitzen Freunde. Ich warte direkt neben der Kirchentür und blicke zu dem riesigen bunten Kirchenfenster empor, das sich hinter dem Altar erhebt. Ich bin froh, dass die Farben stärker zu glänzen beginnen. Heute Morgen hat es ein wenig geregnet, und ich möchte nicht, dass uns irgendetwas diesen Tag vermiest. Doch als ich den Kopf drehe und nach draußen schaue, sehe ich vor der Tür nur hellen Sonnenschein. Es ist einer dieser prachtvollen Junitage, die es nur in England zu geben scheint, mit Hecken voller prächtiger Blumen, mit in voller Blüte stehenden Rosen und einem azurblauen Himmel, der sich endlos über einem erstreckt.
    Ich denke an Joanna. Seit dem frühen Morgen habe ich sie nicht mehr gesehen, nachdem sie sich zu dem Landhaus aufgemacht hat, in dem sie ihre Vorbereitungen trifft und in dem wir später alle feiern werden. Es handelt sich um einen Gutsbesitz aus georgianischer Zeit, mit Rasenflächen, die sich in feinstem Grün vor dem Herrensitz ausbreiten, und um das Gebäude herum befinden sich Lavendelbeete, in denen Bienen träge auf Honigsuche herumfliegen – ein perfekter Anblick. Keiner von uns wird diesen Tag vergessen.
    Meine Mutter lächelt, als ich das Kirchenschiff hinunterblicke. Seit sie aus Südafrika eingetroffen ist, will ihr das vor Glück strahlende Lächeln nicht mehr von den Lippen weichen. Mein Bruder und meine Schwester sitzen still und ruhig neben ihr. Es tut mir gut, sie hier zu wissen. Mein Vater steht neben mir, denn er wird mein Trauzeuge sein.
    »Sie wird bald eintreffen«, sagt er glucksend, als er mich anschaut. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
    Er hat ja recht. Trotzdem bin ich voller glücklicher Ungeduld, Joanna endlich zu sehen. Ich sehne es so sehr herbei, sie zu heiraten, dass ich schon vor fast zwei Stunden gekommen bin. Es beruhigt mich, zusammen mit meinem Vater zu warten. Als er mir vorhin beim Ankleiden half – Zuknöpfen des weißen Hemdes und Binden der roten Krawatte, Hineinhelfen in den pechschwarzen Anzug mit grauen Nadelstreifen und Zubinden meiner schwarzen Schuhe –, stellte ich fest, dass ich seine ruhige und gleichförmige Art heute mehr als irgendwann sonst benötige. Sie gibt mir ein vertrautes Gefühl der Sicherheit; schließlich ist sie ja auch eine meiner ersten Erinnerungen.
    Ich überlege, ob Dad jetzt vielleicht an seinen eigenen Hochzeitstag denkt, während er stille Zufriedenheit ausstrahlt. Das Eheleben meiner Eltern war alles andere als leicht, und ich vermute, keiner der beiden glaubt daran, das große Glück stünde unmittelbar bevor. Sie erinnern mich an Kinder, die sich nicht vorzustellen wagen, ein Märchen könne am Ende doch noch wahr werden. Ihre Augen strahlten etwas mehr, ihr Lächeln wurde etwas breiter, als Joanna und ich ihnen unsere Wohnung und all die anderen Einzelheiten unseres hiesigen Lebens zeigten. Sie gratulierten uns zu allem.
    Es ist 13.25 Uhr. Joanna wird sich jetzt in der von Pferden gezogenen Kutsche befinden, die sie zur Kirche bringt. Sie wird wie eine Märchenprinzessin aussehen, und ich bin ihr wahrlich nicht angestammter Prinz. Ich mache mir Gedanken über sie. Ist sie glücklich? Nervös? Nur noch ein paar Minuten, dann sehe ich sie. Ich blicke auf mein Sprechgerät hinab, das auf meinen Knien liegt. Es ist ein alter Apparat, den ich jetzt schon seit ein paar Jahren habe, eine ausgeklügeltere Version dieses schwarzen Kastens, den mir meine Eltern damals um ein Haar gekauft hätten. Ich benutze das Ding nicht oft, heute jedoch habe ich es bei mir, da ich das Ehegelübde sprechen muss, um es rechtsverbindlich zu machen. Offenbar muss einem das Gelöbnis laut vorgetragen worden sein, um es bindend zu machen, und ein Zeuge muss mich überwachen, um dafür zu bürgen, dass ich den Knopf für das Jawort gedrückt habe, ohne dazu genötigt worden zu sein.
    Ich denke an die Worte, die ich bald sagen werde. Jedes einzelne Wort hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt, als ich es in das Kommunikationsgerät eingab.
    In guten und in schlechten Zeiten,
    In Armut und Reichtum,
    In Krankheit und Gesundheit,
    Bis dass der Tod uns scheidet.
    Nie werde ich Worte sprechen, die von größerer Bedeutung sind. Jede Silbe, jede Zeile wird in mir
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