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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
Autoren: Judith Kerr
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Glatze des Herrn, der ihr gegenüber saß. Auf dem Schoß hielt sie die große Handtasche, auf der ein Kamel abgebildet war, und die sie von einer Reise mit Papa mitgebracht hatte. Sie hielt die Tasche sehr fest.
    Anna vermutete, weil die Fahrkarten und die Pässe darin waren. Sie hielt sie so fest, daß einer ihrer Finger sich tief in das Gesicht des Kamels hineinbohrte.
    »Mama«, sagte Anna, »du zerquetschst das Kamel.«
    »Was?« fragte Mama. Dann merkte sie, was Anna meinte und lockerte ihren Griff. Das Gesicht des Kamels wurde frei, und zu Annas Erleichterung sah es genauso dumm und hoffnungsvoll aus wie sonst.
    »Langweilst du dich?« fragte Mama. »Wir fahren durch ganz Deutschland hindurch. So eine lange Reise habt ihr noch nie gemacht. Hoffentlich hört der Regen bald auf, damit ihr draußen alles sehen könnt.«
    Dann erzählte sie ihnen von den Obstgärten in Süddeutschland - Obstgärten über Kilometer hin. »Wenn wir nur diese Reise später im Jahr hätten machen können«, sagte sie, »dann hättet ihr sie blühen sehen.«
    »Vielleicht sind wenigstens ein paar Blüten schon raus«, sagte Anna.
    Aber Mama meinte, es sei noch zu früh, und der kahle Mann stimmte ihr zu. Dann sagten sie, wie schön es wäre, und Anna wünschte, sie könnte es sehen.
    »Wenn die Blüten jetzt noch nicht heraus sind«, sagte sie, »können wir sie denn ein andermal sehen?«
    Mama antwortete nicht sofort. Dann sagte sie: »Ich hoffe es.« Der Regen ließ nicht nach, und sie verbrachten eine lange Zeit mit Ratespielen, in denen, wie sich herausstellte, Mama sehr gut war. Obgleich sie vom Land nicht viel sehen konnten, bemerkten sie doch eine Veränderung in den Stimmen der Menschen, jedesmal wenn der Zug hielt. Manche waren kaum zu verstehen, und Max kam auf die Idee, unnötige Fragen zu stellen, zum Beispiel: »Ist das Leipzig?« oder »Wie spät ist es?« nur um die Antwort in dem fremden Akzent zu hören.
    Sie aßen im Speisewagen zu Mittag. Es war großartig, mit einer Speisekarte, von der man wählen konnte, und Anna aß Würstchen mit Kartoffelsalat, das war ihr Lieblingsgericht. Ihr war überhaupt nicht übel.
    Später am Nachmittag ging sie mit Max durch den ganzen Zug von einem Ende zum andern. Dann blieben sie im Gang stehen. Es regnete immer heftiger, und die Dämmerung kam sehr früh. Selbst wenn die Obstgärten in Blüte gestanden hätten, hätten sie es nicht sehen können. Annas Kopf schmerzte, und die Nase begann zu laufen, als wollte sie mit dem Regen draußen Schritt halten. Sie rückte sich auf ihrem Platz zurecht und wünschte, sie wären in Stuttgart.
    »Warum siehst du dir Günthers Buch nicht an?«
    sagte Mama. In Günthers Paket waren zwei Geschenke gewesen. Das eine, das Günther für Max bestimmt hatte, war ein Geschicklichkeitsspiel - eine kleine durchsichtige Dose, auf deren Boden sich das Bild eines Drachen mit offenem Rachen befand. Man mußte drei winzige Bällchen in das offene Maul bugsieren. Das war in einem fahrenden Zug sehr schwierig.
    Das andere war ein Buch für beide Kinder von Günthers Mutter. Es hieß: »Sie wurden berühmt«, und sie hatte hineingeschrieben: »Vielen Dank für all die schönen Sachen - etwas zum Lesen für die Reise.«
    Das Buch beschrieb die Jugend verschiedener Menschen, die berühmt geworden waren, und Anna, die sich für dieses Thema interessierte, hatte es zuerst eifrig durchgeblättert. Aber es war so langweilig geschrieben, und der Ton war so belehrend, daß sie allmählich die Lust verlor.
    All den berühmten Leuten war es schlecht ergangen. Der eine hatte einen Vater, der trank. Ein anderer stotterte. Noch ein anderer mußte hunderte von schmutzigen Flaschen waschen. Sie hatten alle eine schwere Kindheit gehabt. Offenbar mußte man eine schwere Kindheit haben, wenn man berühmt werden wollte.
    Sie döste in ihrer Ecke und wischte sich die Nase mit ihren zwei durchnäßten Taschentüchern und wünschte, daß sie bald nach Stuttgart kämen, und daß sie eines Tages doch noch berühmt würde. Und während der Zug in der Dunkelheit durch Deutschland ratterte, ging es ihr immer wieder durch den Kopf:
    »Schwere Kindheit ... schwere Kindheit ... schwere Kindheit ... schwere Kindheit...«

4
    Plötzlich fühlte Anna, daß sie sanft geschüttelt wurde. Sie mußte eingeschlafen sein. Mama sagte: »Also, in ein paar Minuten sind wir in Stuttgart.«
    Anna zog verschlafen den Mantel an, und bald saßen sie und Max vor dem Eingang des Stuttgarter Bahnhofs auf den
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