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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
Autoren: Judith Kerr
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waren gräßlich. Die Frau mit dem Korb hatte ein großes Stück Brot mit Schinken herausgezogen und aß es. Lange Zeit sagte keiner ein Wort. Dann begann der Zug langsamer zu fahren.
    »Entschuldigen Sie«, fragte Mama, »kommen wir jetzt an die Schweizer Grenze?«
    Die Frau mit dem Korb schüttelte kauend den Kopf.
    »Da siehst du es«, sagte Anna zu Max, »Mama stellt auch Fragen.«
    Max machte sich nicht einmal die Mühe, ihr zu antworten, sondern verdrehte nur die Augen. Anna hätte ihm gern einen Tritt versetzt, aber das hätte Mama bemerkt.
    Der Zug hielt und fuhr wieder an, hielt und fuhr wieder an. Jedesmal fragte Mama, ob dies die Grenze sei, und jedesmal schüttelte die Frau mit dem Korb den Kopf. Schließlich, als der Zug wieder einmal langsam fuhr und einige Gebäude in Sicht waren, sagte die Frau mit dem Korb: »Ich glaube, jetzt kommen wir gleich hin.«
    Sie warteten schweigend, während der Zug in der Station hielt. Anna konnte Stimmen hören und wie die Türen anderer Abteile geöffnet und geschlossen wurden. Dann kamen Schritte den Gang entlang, die Tür ihres eigenen Abteils wurde aufgestoßen, und der Paßkontrolleur kam herein. Er trug eine Uniform, die der eines Schaffners glich und hatte einen großen braunen Schnurrbart.
    Er blickte in den Paß der Frau mit dem Korb, nickte, stempelte ihn mit einem kleinen Gummistempel und gab ihn ihr zurück. Dann wandte er sich an Mama. Mama reichte ihm die Pässe und lächelte.
    Aber die Hand, die jetzt die Tasche hielt, krallte sich wie in einem Krampf in den Kopf des Kamels.
    Der Mann prüfte die Pässe. Er schaute Mama an und verglich ihr Gesicht mit dem auf dem Paßfoto, dann musterte er Max und Anna. Er zückte schon seinen Gummistempel. Plötzlich schien ihm etwas einzufallen, und er sah sich die Pässe noch einmal an.
    Endlich stempelte er sie und gab sie Mama zurück.
    »Gute Reise«, sagte er, während er die Tür aufschob.
    Nichts war geschehen. Max hatte sie ganz umsonst erschreckt. »Da siehst du...«, rief Anna, aber Mama warf ihr einen Blick zu, der sie sofort verstummen ließ.
    Der Paßkontrolleur schloß die Tür hinter sich.
    »Wir sind immer noch in Deutschland«, sagte Mama.
    Anna fühlte, wie sie krebsrot wurde. Mama steckte die Pässe in die Tasche zurück. Es herrschte Schweigen. Anna hörte wieder das Kratzen im Korb, die Frau kaute an einem zweiten Schinkenbrot, Türen öffneten und schlossen sich weiter hinten im Zug. Es schien ewig zu dauern.
    Dann fuhr der Zug wieder an. Er rollte ein paar hundert Meter weiter und hielt wieder. Wieder wurden Türen geöffnet und geschlossen. Diesmal ging es schneller. Stimmen sagten: »Zoll ... haben Sie etwas zu deklarieren...?« Ein anderer Mann kam ins Abteil. Mama und die Frau sagten beide, sie hätten nichts zu verzollen, und er machte ein Zeichen mit Kreide auf alle Gepäckstücke, auch auf den Korb der Frau. Noch einmal warteten sie, dann ertönte ein Pfiff, und schließlich fuhren sie wieder. Diesmal erhöhte sich die Geschwindigkeit des Zuges, und schließlich ratterte er gleichmäßig durch die Landschaft.
    Nach langer Zeit fragte Anna: »Sind wir jetzt in der Schweiz?«
    »Ich glaube ja. Ich bin nicht sicher«, sagte Mama.
    Die Frau mit dem Korb hörte auf zu kauen. »O ja«, sagte sie gemütlich, »das ist die Schweiz. Wir sind jetzt in der Schweiz - das ist mein Land.«
    Es war herrlich.
    »Schweiz«, sagte Anna. »Wir sind wirklich in der Schweiz.«
    »Es wurde auch Zeit«, sagte Max und grinste.
    Mama stellte die Tasche mit dem Kamel neben sich auf den Sitz und lächelte.
    »Also«, sagte sie, »jetzt werden wir bald bei Papa sein.«
    Anna kam sich plötzlich ganz komisch und wie beschwipst vor. Sie wollte unbedingt irgend etwas Besonderes und Aufregendes sagen oder tun, es fiel ihr aber nichts ein - so wandte sie sich schließlich an die Schweizerin und fragte: »Entschuldigen Sie - aber was haben Sie da in Ihrem Korb?«
    »Das ist mein Büssi«, sagte die Frau mit der weichen Stimme. Anna fand das Wort schrecklich komisch. Sie verbiß sich das Lachen, schaute zu Max hinüber und sah, daß er sich beinahe vor unterdrücktem Lachen wälzte.
    »Was ... was ist ein Büssi?« fragte Anna, aber die Frau hatte schon den Deckel des Korbes auf einer Seite hochgeschlagen, und bevor sie antworten konnte, ertönte ein helles »Iiii...« und der Kopf eines struppigen schwarzen Katers streckte sich aus der Öffnung.
    Anna und Max konnten sich nicht mehr halten. Sie schüttelten sich vor
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