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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
Autoren: Judith Kerr
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Koffern, wahrend Mama nach einem Taxi suchte. Es regnete immer noch in Strömen, der Regen trommelte auf das Bahnhofsdach und fiel wie ein durchsichtiger Vorhang zwischen ihnen und dem dunklen Platz vor ihnen. Es war kalt.
    Schließlich kam Mama zurück. »Was für eine Stadt!« rief sie. »Hier ist ein Streik ausgebrochen, und es verkehren keine Taxis. Aber seht ihr das blaue Zeichen dort drüben?«
    Auf der anderen Seite des Bahnhofsvorplatzes flimmerte es blau durch die Nässe. »Das ist ein Hotel«, sagte Mama. »Wir nehmen nur mit, was wir für die Nacht brauchen und laufen durch den Regen, so schnell wir können.«
    Das große Gepäck wurde aufgegeben, dann kämpften sie sich über den Bahnhofsplatz hinüber. Anna trug einen Koffer, der ihr dauernd gegen die Beine schlug, und der Regen fiel so dicht, daß sie kaum etwas sah. Einmal trat sie in eine tiefe Pfütze und machte sich die Füße ganz naß. Aber schließlich waren sie doch im Trockenen. Mama bestellte Zimmer, und dann aßen sie und Max etwas. Anna war zu müde. Sie ging sofort zu Bett und schlief gleich ein.
    Als sie am Morgen aufstanden, war es noch dunkel.
    »Bald werden wir Papa sehen«, sagte Anna, als sie im spärlich beleuchteten Speisesaal frühstückten. Es war noch niemand auf, und der Kellner mit den verschlafenen Augen schien ihnen die altbackenen Brötchen und den Kaffee, den er vor sie hinknallte, zu mißgönnen. Mama wartete, bis er wieder in die Küche gegangen war. Dann sagte sie: »Bevor wir nach Zürich kommen und Papa treffen, müssen wir die Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz überqueren.«
    »Müssen wir aus dem Zug aussteigen?« fragte Max.
    »Nein«, sagte Mama. »Wir bleiben in unserem Abteil, und dann kommt ein Mann und sieht sich unsere Pässe an. Genau wie ein Fahrkartenkontrolleur.
    Aber« - und sie blickte jedem der Kinder in die Augen, - »das ist sehr wichtig. Wenn der Mann kommt, um unsere Pässe anzusehen, dann will ich, daß keiner von euch ein Wort sagt. Versteht ihr?
    Nicht ein Wort.«
    »Warum nicht?« fragte Anna.
    »Weil der Mann sonst sagen könnte: Was für ein schrecklich schwatzhaftes Mädchen, ich nehme ihr lieber den Paß ab«, sagte Max, der immer schlechtgelaunt war, wenn er nicht genug geschlafen hatte.
    »Mama«, rief Anna flehend, »das würde er doch nicht tun - ich meine, unsere Pässe wegnehmen?«
    »Nein ... nein, vermutlich nicht«, sagte Mama.
    »Aber für alle Fälle - Papas Name ist recht bekannt - und wir wollen in keiner Weise die Aufmerksamkeit auf uns lenken. Wenn der Mann also kommt - kein Wort. Denkt daran - nicht ein einziges, winziges Wort!«
    Anna versprach, daran zu denken.
    Es hatte endlich aufgehört zu regnen, und es war ganz leicht, den Platz vor dem Bahnhof zu überqueren. Der Himmel fing gerade an, hell zu werden, und nun konnte Anna die Wahlplakate sehen, die überall angebracht waren. Ein paar Leute standen vor einem Haus, das als Wahllokal gekennzeichnet war und warteten darauf, daß es geöffnet wurde. Anna fragte sich, für wen sie wohl stimmen würden.
    Der Zug war beinahe leer, und sie hatten ein Abteil für sich, bis an der nächsten Station eine Frau mit einem Korb einstieg. Anna konnte in dem Korb etwas rumoren hören - es mußte etwas Lebendiges darin sein. Anna blickte Max an, um herauszufinden, ob es ihm auch aufgefallen sei, aber er hatte immer noch schlechte Laune und schaute mit gerunzelter Stirn zum Fenster hinaus. Auch Anna wurde verdrießlich, und es fiel ihr ein, daß ihr der Kopf weh tat und ihre Stiefel immer noch vom gestrigen Regen feucht waren.
    »Wann kommen wir zur Grenze?« fragte sie.
    »Ich weiß nicht«, sagte Mama. »Es dauert noch eine Weile.« Anna bemerkte, daß ihre Finger sich wieder in das Gesicht des Kamels eindrückten.
    »Vielleicht in einer Stunde? Was meinst du?« fragte Anna.
    »Immer mußt du Fragen stellen«, sagte Max, obwohl es ihn gar nichts anging. »Warum kannst du nicht den Mund halten?«
    »Warum kannst du’s nicht?« sagte Anna. Sie war tief beleidigt und suchte nach etwas, womit sie ihn verletzen könnte. Schließlich platzte sie heraus: »Ich wünschte, ich hätte eine Schwester!«
    »Ich wünschte, ich hätte keine«, sagte Max.
    »Mama!« wimmerte Anna.
    »Oh, um Himmels willen, hört auf!« rief Mama.
    »Haben wir nicht schon Sorgen genug?« Sie umklammerte die Tasche mit dem Kamel und schaute immer wieder hinein, um zu sehen, ob die Pässe noch da waren.
    Anna zappelte mißmutig auf ihrem Sitz herum. Alle Leute
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