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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
Autoren: Judith Kerr
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denn der war geschwollen und tat weh, und jetzt befühlte er ihn mit der Hand. Sie sagte scharf: »Lassen Sie das!« aber er kümmerte sich nicht darum und versuchte, ihr etwas Gräßliches einzuflößen. Sie wollte ihn wegstoßen, aber dann sah sie, daß es gar nicht der Mann mit dem Bart war, sondern Mama, und ihre blauen Augen blickten so wild und entschlossen, daß es sinnlos schien, sich zu wehren.
    Danach wurde alles ein wenig klarer. Sie fing an zu verstehen, daß sie eine Zeitlang krank gewesen war und immer noch hohes Fieber hatte, und daß sie sich so schlecht fühlte, weil alle Drüsen in ihrem Hals geschwollen und empfindlich waren.
    »Wir müssen das Fieber herunterbekommen«, sagte der Doktor mit dem Bart.
    Die Mama sagte: »Ich werde dir einen Umschlag um den Hals machen, dann wird es besser.«
    Anna sah Dampf aus einem Becken aufsteigen.
    »Es ist zu heiß!« schrie sie, »ich will es nicht.«
    »Ich werde ihn nicht zu heiß auflegen«, sagte Mama.
    »Ich will nicht!« kreischte Anna. »Und überhaupt, du kannst das nicht. Wo ist Heimpi? Heimpi würde keinen heißen Dampf auf meinen Hals tun.«
    »Unsinn!« sagte Mama, und plötzlich drückte sie eine dampfende Wattekompresse auf ihren eigenen Hals. »Da«, sagte sie, »wenn es für mich nicht zu heiß ist, wirst du es wohl auch aushalten können«, - und sie preßte die Kompresse fest auf Annas Hals und wickelte einen Verband darum.
    Es war schrecklich heiß, aber nicht unerträglich.
    »Siehst du, es ist nicht so schlimm«, sagte Mama.
    Anna war viel zu wütend, um zu antworten. Das Zimmer begann sich wieder zu drehen, aber während sie in Schlaf verfiel, hörte sie noch Mamas Stimme: »Ich werde das Fieber herunterkriegen, und wenn ich dabei umkomme!«
    Sie mußte gedöst oder geträumt haben, denn plötzlich war ihr Hals wieder kühl, und Mama nahm den Wickel ab.
    »Und wie geht es dir jetzt, fettes Schweinchen?« sagte Mama. »Fettes Schweinchen?« fragte Anna schwach.
    Mama tupfte ganz leise auf eine von Annas geschwollenen Drüsen.
    »Hier sitzt das fette Schweinchen«, sagte sie, »das ist das schlimmste von allen. Das andere ist nicht ganz so schlimm. Es heißt mageres Schweinchen. Und dies hier nennen wir rosa Schweinchen und dies kleines Schweinchen, und das ... wie sollen wir das nennen?«
    »Fräulein Lambeck«, sagte Anna und fing an zu lachen. Sie war so schwach, daß das Lachen eher wie ein Gackern klang, aber Mama schien es trotzdem zu freuen.
    Mama machte weiter die heißen Umschläge, und es ließ sich aushalten, weil sie dabei immer Späße über das fette Schweinchen und das magere Schweinchen und Fräulein Lambeck machte; aber obwohl der Hals sich besserte, hatte Anna immer noch ziemlich hohes Fieber. Sie wachte morgens auf und schien gesund, aber gegen Mittag wurde es ihr schwindlig, und am Abend verschwamm alles vor ihren Augen, und es war ihr ganz wirr. Sie hatte die seltsamsten Vorstellungen. Sie hatte Angst vor der Tapete und konnte es nicht ertragen, allein zu sein. Einmal, als Mama nach unten gegangen war, um zu Abend zu essen, kam es ihr so vor, als würde das Zimmer immer kleiner, und sie fing an zu schreien, denn sie glaubte, sie werde dabei zerdrückt. Danach aß Mama von einem Tablett in Annas Zimmer. Der Arzt sagte: »So kann es nicht mehr lange weitergehen.«
    Eines Nachmittags lag Anna da und starrte auf die Vorhänge. Mama hatte sie gerade zugezogen, denn es wurde dunkel, und Anna versuchte zu erkennen, was für Figuren die Falten bildeten. Am Abend zuvor hatten sie wie ein Vogel Strauß ausgesehen. Als Annas Fieber stieg, hatte sie den Strauß immer deutlicher erkennen können, und schließlich hatte sie ihn sogar im Zimmer herumspazieren lassen. Diesmal würde es vielleicht ein Elefant sein. Plötzlich merkte sie, daß in der anderen Ecke geflüstert wurde. Sie wandte den Kopf. Es kostete sie Mühe. Papa saß neben Mama, und beide betrachteten einen Brief. Sie verstand nicht, was Mama sagte, konnte aber am Klang ihrer Stimme erkennen, daß sie erregt und bestürzt war. Dann faltete Papa den Brief zusammen und legte seine Hand auf Mamas Hand, Anna glaubte, er werde jetzt bald gehen, aber er blieb sitzen und hielt Mamas Hand. Anna betrachtete die beiden eine Weile, bis sie zu müde wurde und ihr die Augen zufielen. Das Flüstern war noch leiser geworden.
    Irgendwie klang es sehr beruhigend, und Anna schlief bald darüber ein.
    Als sie erwachte, kam es ihr so vor, als ob sie sehr lange geschlafen habe. Noch etwas
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