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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
Autoren: Judith Kerr
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noch und warteten auf sie, und sie hatte sie fast eingeholt, als sie ein Gartentor knarren hörte. Jemand bewegte sich auf dem Gehsteig neben ihr, und plötzlich wurde eine Gestalt sichtbar. Einen Augenblick war Anna sehr erschrocken, aber dann erkannte sie, daß es nur Fräulein Lambeck in einer kurzen Pelzjacke war. Sie trug einen Brief in der Hand.
    »Kleine Anna«, rief Fräulein Lambeck. »Daß ich dir hier im Dunkeln begegne! Ich wollte nur zum Briefkasten gehen und hätte gar nicht erwartet, einen verwandten Geist zu treffen. Und wie geht es deinem lieben Papa?«
    »Er hat die Grippe«, sagte Anna automatisch.
    Fräulein Lambeck blieb stehen.
    »Er hat immer noch Grippe, kleine Anna? Du hast mir schon vor einer Woche gesagt, daß er Grippe hat.«
    »Ja«, sagte Anna.
    »Er liegt immer noch zu Bett? Hat immer noch Fieber?«
    »Ja«, sagte Anna.
    »Oh, der arme Mann!« Fräulein Lambeck legte ihre Hand auf Annas Schulter. »Wird auch alles für ihn getan? Kommt der Arzt zu ihm?«
    »Ja«, sagte Anna.
    »Und was sagt der Arzt?«
    »Er sagt ... ich weiß es nicht«, antwortete Anna.
    Fräulein Lambeck beugte sich vertraulich vor und sah Anna ins Gesicht. »Sag mir, kleine Anna«, sagte sie, »wie hoch ist die Temperatur deines lieben Vaters?«
    »Ich weiß es nicht«, schrie Anna, und die Worte klangen gar nicht so, wie sie es eigentlich beabsichtigt hatte. Es war eher eine Art von Quieken. »Verzeihen Sie, aber ich muß jetzt nach Hause!« - und sie rannte so schnell sie konnte auf Max und die geöffnete Haustür zu.
    »Was ist los?« fragte Heimpi in der Diele. »Hat dich jemand aus ’ner Kanone geschossen?«
    Anna konnte Mama durch die halboffene Tür des Wohnzimmers sehen.
    »Mama«, rief sie, »ich hasse es, alle wegen Papa anzulügen. Es ist schrecklich. Warum müssen wir es denn tun? Ich wünschte, das wäre nicht nötig.«
    Dann sah sie, daß Mama nicht allein war. Onkel Julius (der nicht wirklich ihr Onkel, sondern ein alter Freund von Papa war) saß in einem Sessel auf der anderen Seite des Zimmers.
    »Beruhige dich«, sagte Mama in scharfem Ton.
    »Wir alle hassen es, wegen Papa zu lügen, aber im Augenblick bleibt keine andere Wahl. Ich würde es nicht von dir verlangen, wenn es nicht notwendig wäre.«
    »Fräulein Lambeck hat sie sich geschnappt«, sagte Max, der hinter Anna eingetreten war. »Du kennst doch Fräulein Lambeck? Sie ist gräßlich. Man kann ihre Fragen nicht beantworten, auch wenn man die Wahrheit sagen darf.«
    »Arme Anna«, sagte Onkel Julius mit seiner hellen Stimme. Er war ein sanfter, kleiner und zarter Mann, den sie alle sehr gern hatten. »Euer Vater bittet mich, euch zu sagen, wie sehr er euch beide vermißt, und er läßt euch tausendmal grüßen.«
    »Du hast ihn also gesehen?« fragte Anna.
    »Onkel Julius kommt gerade von Prag zurück«, sagte Mama. »Papa geht es gut, und er will, daß wir ihn am Sonntag in Zürich in der Schweiz treffen.«
    »Am Sonntag?« sagte Max. »Aber das ist ja schon in einer Woche. Das ist der Tag der Wahlen. Ich dachte, wir würden abwarten, wer gewinnt?«
    »Dein Vater hat beschlossen, daß wir nicht abwarten sollen.« Onkel Julius lächelte Mama an. »Ich glaube, er nimmt das alles zu ernst.«
    »Warum?« fragte Max. »Was befürchtet er denn?«
    Mama seufzte. »Seit Papa davon gehört hat, daß man ihm seinen Paß wegnehmen wollte, hat er Angst, man konnte uns auch unsere Pässe nehmen, und dann könnten wir nicht mehr aus Deutschland hinaus.«
    »Aber warum sollten sie das tun?« fragte Max.
    »Wenn die Nazis uns nicht mögen, dann sind sie doch bestimmt froh, uns loszuwerden.«
    »Genau«, sagte Onkel Julius. Er lächelte wieder Mama zu. »Dein Mann ist ein wunderbarer Mensch mit einer wunderbaren Einbildungskraft, aber - offen gesagt - ich glaube, in dieser Sache hat er den Kopf verloren. Aber wie auch immer - ihr werdet in der Schweiz herrliche Ferien verbringen, und wenn ihr in ein paar Wochen zurückkommt, gehen wir alle zusammen in den Zoo.« Onkel Julius war Zoologe und ging ständig in den Zoo.
    »Laßt mich wissen, wenn ich euch mit irgend etwas behilflich sein kann. Natürlich sehen wir uns noch.«
    Er küßte Mama die Hand und ging.
    »Sollen wir wirklich am Sonntag fahren?« fragte Anna.
    »Am Samstag«, sagte Mama. »Es ist eine lange Reise in die Schweiz. Wir werden unterwegs in Stuttgart übernachten müssen.«
    »Dann ist dies unsere letzte Woche in der Schule!« sagte Max.
    Es schien unfaßbar.

3
    Danach ging alles sehr
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