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Als Gott ein Kaninchen war

Als Gott ein Kaninchen war

Titel: Als Gott ein Kaninchen war
Autoren: S Winman
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Filmpreisverleihungs-Saison gerade eröffnet worden.
    Und dann wandte Joe sich an Arthur.
    » Hey, Arthur«, sagte er. » Wie geht es dir?«
    » Alles, was du über mich wissen musst, steht hier drin«, antwortete er und zog seine Autobiografie aus der Jackentasche.
    Ich konnte sie im unteren Stockwerk hören, sie lachten, und ich hätte eigentlich aufstehen sollen, aber die Matratze fühlte sich so gut an. Ich wollte einfach nur den ganzen Nachmittag schlafen, und die ganze Nacht und auch die nächsten Tage und Wochen verschlafen, so schwer waren meine Augenlider nach den vielen Stunden des leeren Wartens. Aber ich setzte mich auf, schenkte mir ein Glas Wasser ein und trank es in einem Zug halbleer.
    Ich ging zum Fenster und sah sie über die Wiese zum Steg hinuntergehen, als das Licht gerade den Kampf gegen eine immer dicker werdende Wolkendecke verlor. Mein Bruder beugte sich hinunter und betrachtete sein Spiegelbild im Wasser. Charlie kniete sich neben ihn. Es war ein Bild, das ich für immer verloren geglaubt hatte, verloren unter dem Staub und den Trümmern dieser anderen Zeit, die die Vergangenheit heimsuchte. Nachtschaurig und ungebeten, eine Zeit, die einen aus der Geborgenheit des Schlafes riss, wie Fleisch von einem Knochen.
    Meine Mutter kam, um nach mir zu sehen. Ich hörte sie auf der Treppe, hörte sie meinen Namen rufen, aber ich war zu müde, zu entspannt, um zu antworten. Ich spürte ihren Atem an meinem Nacken.
    » Danke, dass du ihn nach Hause gebracht hast.«
    Ich wollte mich umdrehen und etwas sagen, aber ich fand keine Worte, da war nur dieses Bild ihres Sohnes, meines Bruders, der wieder unter uns war, und das Licht schmiegte sich an ihn in der zerbrechlichen Abenddämmerung, ein Licht, das sagte geh nie aus.
    Danach kehrte die Erinnerung beständig zu ihm zurück; erst langsam, manchmal unkalkulierbar, einmal sogar während eine Wetterfront aufzog, die die Landschaft zerriss und Bilder und Momente freilegte, die ihn fest in dieser Szenerie platzierten. Er entdeckte seine Wege entlang des Moors und über die Klippen wieder, geheime Pfade zu den Stränden hinunter, Eis am Stiel, das er seit Jahren nicht mehr gegessen hatte, Vanillegeschmack– bis hin zu der Erinnerung an eine Glocke, die auf dem Wasser trieb. » Kann das sein?«, fragte er mich. Ich nickte. Ja.
    Wir folgten ihm, dieser zusammengewürfelte Haufen Familie, und entdeckten Erinnerungen und Begebenheiten wieder, die schon längst der hektischen Betriebsamkeit des Lebens zum Opfer gefallen waren. Wir erlebten sie neu, durch die Lebhaftigkeit seines Blicks in die Vergangenheit. Er hörte sich unsere Geschichten an, stellte Fragen und fügte Ereignisse wieder zusammen, setzte gedanklich die Beteiligten in Beziehung, bis die Verbindung wiederhergestellt war. Ein zerrupfter Stammbaum, zusammengeklebt von bereits benutztem Klebeband.
    Und er legte ein seltsames Bedürfnis in uns frei: dass jeder von uns insgeheim wollte, dass er sich an uns am besten erinnert. Es war sonderbar, ein drängendes Bedürfnis, das sich zugleich falsch anfühlte, bis mir klar wurde, dass der Wunsch, nicht vergessen zu werden, wahrscheinlich einfach stärker war, als der Wunsch, nicht zu vergessen. Aber ich hatte meinen Anspruch auf eine solche Position schon vor Langem aufgegeben. Er war sooft nicht der Mensch, an den ich mich erinnerte. Verschwunden war der feine Zynismus, der ihn fernhielt von normalen menschlichen Begegnungen. Er wurde nun ersetzt von einem überschwänglichen Enthusiasmus, der ihn das Leben mit den Augen eines Kindes betrachten ließ. Manchmal würde ich sie sicher vermissen, seine bissigen Kommentare, seine düsteren Gedanken, gefährlich und poetisch zugleich, die die Spannung aufrechterhielten, seine Anrufe um drei Uhr morgens, die es wohl nie wieder geben würde, diese Anrufe, die dafür sorgten, dass ich mich ganz und heil fühlte.
    Und manchmal knickte seine Erinnerung nach Belieben ein und machte Platz für die Enthüllungen von Geheimnissen, die niemals preiszugeben er hoch und heilig versprochen hatte. Wie einmal auf dem Weg nach Talland, als er sich an mich wandte und fragte: » Wie viel hat dir Andrew Landauer gleich noch mal für Sex mit ihm bezahlt?« Worauf ich antwortete: » Nicht genug«, und mit Nancy Arm in Arm davonmarschierte, weg von den schockierten Gesichtern meiner Eltern.
    Oder wie der Moment, als wir uns zum Abendessen versammelt hatten, und er sich an meine Eltern wandte und fragte: » Habt ihr ihm das jemals
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