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Als die Welt zum Stillstand kam

Als die Welt zum Stillstand kam

Titel: Als die Welt zum Stillstand kam
Autoren: G Neumayer
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Nase einatmen, langsam durch den Mund ausatmen. Noch mal. Noch mal. Noch mal.
    Es war Zeit, sich in Dawn zu verwandeln.
    Dawn, die in fast allem das genaue Gegenteil von Celie war: Sie bewegte sich bedächtig, erledigte ihre Aufgaben, ohne zu murren, und fiel weder angenehm noch unangenehm auf. Sie kannte keinen Kummer und keine Schuldgefühle. Und sie legte sich nicht ständig mit jemandem an …
    Hättest du mich lieber gehabt, Mom, wenn ich mehr wie Dawn gewesen wäre?
    Dawn war in den letzten Wochen wie eine zweite Haut für Celie geworden und die Verwandlung fiel ihr inzwischen leicht – erschreckend leicht.
    Aus dem Spiegel starrten Celie rot geweinte Augen an. So konnte sie nicht vor die Tür gehen. Sie putzte sich die Nase. Make-up wäre vielleicht auch eine gute Idee. In einer Schublade fand sie ein Döschen und schmierte sich das Zeug unter die Augen. Anschließend zerrte sie mit dem Kamm so lange an ihren Haaren, bis die widerspenstigen Locken aufgaben und sich zusammenstecken ließen.
    Na also. Mit diesem Dutt sah sie genauso aus wie die meisten anderen Mädchen auch. Jetzt noch die freundliche, aber unverbindliche Miene aufsetzen, die so typisch für Dawn war, dann konnte es losgehen.
    Auf der Straße war kaum jemand unterwegs. Kein Wunder: Es war fast Mittag und die meisten arbeiteten auf den Feldern oder in den Werkstätten. Nur ein paar Segways und E-Bikes glitten lautlos über den makellosen Asphalt und eine Gruppe kleiner Kinder spielte »Himmel und Hölle«.
    Auf dem Platz neben der Schule waren vier Männer damit beschäftigt, den Rambler- Springbrunnen für die Feier am nächsten Tag mit Lichterketten zu dekorieren. Zwei Frauen hielten sich gegenseitig PaintPads unter die Nase und diskutierten heftig.
    Einer der Männer winkte. »Hey, Dawn! Sag mal …«
    »Morgen, Olle«, rief Celie. »Bin spät dran!«
    Sie ging schneller. Sie hatte sich schon einmal von Olle in ein Gespräch verwickeln lassen. Ein schlimmer Fehler.
    Im Speisesaal war es angenehm kühl. Die Scheiben hatten sich von außen verdunkelt, um den Saal gegen die Mittagshitze abzuschirmen. Dank der Leucht-OLEDs an den Wänden merkte man davon jedoch nichts. Heute zeigten sie einen sonnigen Tropenstrand. Palmen wiegten sich sanft im Wind, Papageien turtelten in ihrem Schatten. Man konnte sogar hören, wie die Wellen leise ans Ufer schlugen.
    Alles war so furchtbar kitschig, dass Celie nur eine einfiel, die es programmiert haben konnte.
    Brigid. Ausgerechnet. Wenn sie irgendjemandem heute nicht begegnen wollte, dann war es diese hagere, blonde Frau mit dem stechenden Blick.
    Celie hatte keine Ahnung, was Brigid gegen sie hatte. In ihrem alten Leben hätte sie sie längst zur Rede gestellt, aber hier wäre das zu riskant gewesen. Sie durfte sich keine Feinde machen, ebenso wenig wie sie sich Freunde suchen durfte. Feinde wollten genau wie Freunde viel zu viel über einen wissen.
    Doch jetzt knurrte Celies Magen. Sie würde ganz sicher nicht hier verschwinden, ohne etwas gegessen zu haben, nur um Brigid aus dem Weg zu gehen.
    Brigid kam mit einem Servbot aus der Küche. Als sie Celie sah, schnaubte sie und machte sich über die Theke her, als wollte sie einen neuen Rekord im Aufräumen aufstellen.
    »Morgen«, sagte Celie laut. Sie griff nach einer Scheibe Brot, aber Brigid hechtete zum Brotkorb, schnappte ihn Celie unter der Nase weg und knallte ihn auf den Servbot. Celie musste lachen.
    Brigid fuhr herum. »Es ist gleich Mittag«, sagte sie scharf. »Frühstück gibt’s jetzt nicht mehr.«
    Celie verkniff sich den Kommentar, der ihr auf der Zunge lag, und beeilte sich, die letzten Reste Colcannon zu ergattern, bevor Brigid den Kartoffelbrei auch noch abräumen konnte. Sie schaffte es sogar, sich eine Tasse Kaffee einzugießen, doch bei der Milch war Brigid wieder schneller. Lächelnd schwenkte sie das Milchkännchen.
    »Du trinkst ihn doch schwarz, oder?«
    Brigid legte es darauf an, Celie aus der Fassung zu bringen. Aber das würde ihr nicht gelingen. Trotzdem konnte Celie nicht verhindern, dass ihre Hand zitterte, als sie Zucker in ihre Tasse schüttete.
    »Sieh mal an«, sagte Brigid höhnisch, »hast wohl gestern zu viel gefeiert, was?«
    Bevor Celie nachdenken konnte, hatte sie Brigid am Arm gepackt und zu sich herübergezogen. Brigid heulte auf.
    »Genau!«, sagte Celie. »Ich hab gefeiert! Den ganzen Tag hab ich getanzt, auf dem Grab meiner …«
    Sie brach ab und berührte unwillkürlich ihre Wange. Wie jedes Mal, wenn der
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