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Als die Uhr dreizehn schlug

Titel: Als die Uhr dreizehn schlug
Autoren: Philippa Pearce
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»Gut. Ich wusste, dass ich vernünftig mit dir sprechen kann.«
    »Aber ich schlafe trotzdem nicht!«
    »Alle Kinder schlafen«, erwiderte Onkel Alan barsch, »und Tante Gwen fügte in sanfterem Ton hinzu: »Das bildest du dir nur ein, Tom.«
    Der arme Tom hatte darauf keine Antwort, wenn er nicht widersprechen wollte, und er hatte das Gefühl, das wäre unklug.
    Sie ließen ihn allein.
    Er lag in der Dunkelheit und dachte sich einen Brief an seine Mutter aus. »Hol mich hier raus. Sofort.« Doch nein, das war vielleicht feige und würde seiner Mutter fürchterliche Sorgen bereiten. Er würde stattdessen Peter sein Herz ausschütten, auch wenn Peter wegen der Masern nicht antworten konnte. Er würde Peter schildern, wie elend langweilig es hier war, selbst bei Nacht. Es gab nichts zu tun, nirgends konnte man hingehen, es gab niemanden – wirklich niemanden –, mit dem man etwas unternehmen konnte. »Das ist das schlimmste Loch, in dem ich je gewesen bin«, schrieb er in Gedanken. »Ich würde alles tun, um hier rauszukommen, Peter – um anderswo zu sein – wo auch immer.« Ihm kam es vor, als ob die Sehnsucht, frei zu sein, in ihm anschwoll und den ganzen Raum ausfüllte, bis sie groß genug war, um die Wände bersten zu lassen und ihn tatsächlich zu befreien.
    Sie hatten ihn allein gelassen und jetzt gingen sie zu Bett. Onkel Alan nahm ein Bad und Tom lauschte den Geräuschen, die er machte. Er konnte ihn nicht leiden. Aus irgendeinem Grund konnte Tom immer hören, was im Badezimmer nebenan vor sich ging, so deutlich, als wäre er selbst dort. Heute Abend saß er fast in der Badewanne mit Onkel Alan. Später hörte er Schritte und Gespräche aus der Wohnung. Schließlich verschwand das Licht unter der Türritze. Das Flurlicht war zur Nacht gelöscht worden.
    Allmählich trat Stille ein und dann schlug die Standuhr zwölf. Um Mitternacht waren Onkel und Tante immer im Bett und meist schon eingeschlafen. Nur Tom lag noch mit offenen Augen da, verdrossen und gefangen in seiner Schlaflosigkeit.
    Und endlich – eins! Die Uhr schlug die richtige Stunde; doch als ob sie ihren eigenen Willen kundtun wollte, schlug sie weiter – zwei! Zum ersten Mal konnte Tom nicht darüber lachen, dass sie die falsche Uhrzeit verkündete: Drei! Vier! »Es ist eine Uhr«, flüsterte Tom zornig über den Rand der Bettdecke. »Warum schlägst du dann nicht eins, wie die Uhren zu Hause?« Stattdessen: Fünf! Sechs! Tom ärgerte sich zwar, doch er konnte nicht aufhören zu zählen; nachts war das eine Gewohnheit geworden. Sieben! Acht! Immerhin war die Uhr das einzige Wesen, das in all diesen Stunden der Dunkelheit zu ihm sprach. Neun! Zehn! Heute willst du es aber wissen!, dachte Tom und er gähnte, während er die Uhr unwillkürlich bewunderte. Ja, und sie war noch nicht am Ende: Elf! Zwölf! Schon toll, zweimal nachts Mitternacht zu schlagen!, grinste Tom schläfrig. Dreizehn!, verkündete die Uhr und dann hörte sie auf zu schlagen.
    Dreizehn? Jäh war Tom wieder hellwach! Hatte sie wirklich dreizehn geschlagen? Selbst verrückte alte Uhren schlugen nie dreizehn. Das musste er sich eingebildet haben. War er nicht gerade dabei einzuschlafen oder hatte er etwa schon geschlafen? Aber nein, wach oder dösend, er hatte bis dreizehn gezählt. Ganz sicher.
    Es gefiel ihm nicht, dass die dreizehn Schläge ihn beunruhigten, aber genau das taten sie. Die Stille schien nun erwartungsvoll zu sein; das Haus schien den Atem anzuhalten; die Dunkelheit drängte sich ihm auf und forderte ihn heraus: Komm schon, Tom, die Uhr hat dreizehn geschlagen – was machst du daraus?
    »Nichts«, sagte Tom laut. Und dann, als Nachgedanke: »Sei nicht blöd!«
    Was konnte er denn schon tun? Er musste im Bett bleiben, schlafen oder es wenigstens versuchen, ganze zehn Stunden lang, wenn möglich von neun Uhr abends bis sieben Uhr morgens. Das hatte er dem Onkel versprochen.
    Onkel Alan war sich so vernünftig vorgekommen; und doch spürte Tom jetzt allmählich, dass etwas nicht stimmte… Onkel Alan hatte, ohne darüber zu reden, wie selbstverständlich angenommen, der Tag habe vierundzwanzig Stunden – zweimal zwölf. Doch was wäre, wenn er zweimal dreizehn hätte? Dann gäbe es von neun Uhr abends bis sieben Uhr morgens – mit der dreizehnten Stunde irgendwo dazwischen – mehr als zehn Stunden, nämlich elf. Er konnte zehn Stunden im Bett liegen und dennoch eine Stunde übrig haben – eine Stunde Freiheit.
    Doch langsam, langsam! Das war lächerlich: Ein
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