Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Als die Uhr dreizehn schlug

Titel: Als die Uhr dreizehn schlug
Autoren: Philippa Pearce
Vom Netzwerk:
auf.
    Tom blieb mit offenem Mund stehen; unterdessen begannen seine Sinne ihm beharrlich Empfindungen mitzuteilen, die noch merkwürdiger waren als seine Begegnung. Sein einer nackter Fuß stand auf einer kalten Steinfliese, das wusste er; doch diese Steinfliese fühlte sich merkwürdig weich und warm an. Er blickte hinab und sah, dass er auf einem kleinen Teppichvorleger stand – einem Tigerfellteppich. Den Flur entlang gab es noch weitere davon. Er sah sich nun den ganzen Flur genauer an – und dieser Flur hatte sich verändert. Keine Wäschebox, keine Milchflaschen, keine Reiseplakate an den Wänden. Vielmehr waren diese mit einer reichen Vielfalt anderer Dinge geschmückt: mit einem langen gotischen Barometer, einem Fächer aus Pfauenfedern, einem mächtigen Kupferstich von einer Schlacht (Husaren und Pferde und von Schüssen durchlöcherte Flaggen) und vielen anderen Bildern. Es gab einen großen Essensgong, neben dem ein waschlederner Schlägel hing. Es gab einen großen Schirmständer mit Schirmen und Spazierstöcken und einen Sonnenschirm und ein Luftgewehr und offenbar Teile einer Angelrute. Entlang der Wand zog sich eine Reihe von Regalen, jedes tischhoch. Sie waren aus Eiche, außer einem in der Mitte des Flurs, bei der Standuhr. Dieses war aus weißem Marmor und seine Fächer waren voller Glasvitrinen mit ausgestopften Vögeln und anderen Tieren. Szenen wilden Blutvergießens waren auf der kalten Oberfläche des Marmors festgehalten; eine Eule mit einer Maus in den Klauen; ein Jagdhund, der von dem Hasen aufsah, den er gerade getötet hatte; in einem Fach in der Mitte schlich sich ein roter Fuchs mit seiner Federwildbeute im Maul von dannen. Unter all diesen vielen Dingen, mit denen der Hausflur voll gestopft war, erkannte Tom nur die Standuhr wieder. Er trat auf sie zu, nicht um auf die Zeiger zu blicken, sondern um sie anzufassen – um sich zu vergewissern, dass sie zumindest so war, wie er sie kannte.
    Seine Hand berührte sie fast, als er einen leisen Seufzer hinter sich hörte. Es war das Hausmädchen, das hinter ihm den Weg zurückging, den sie gekommen war. Aus irgendeinem Grund hörte er sie nicht mehr so deutlich wie vorhin. Er hörte sie nur schwach rufen: »Ich hab im Salon Feuer gemacht!«
    Sie schritt auf die Tür zu, durch die sie gekommen war, und während Tom ihr mit den Augen folgte, erlebte er etwas Seltsames. Sie erreichte die Tür, die Hand berührte den Türknopf, und dann schien sie zu verschwinden. Genau so war es. Sie ging, aber nicht durch die Tür. Sie verblasste einfach und verschwand.
    Noch während er auf die Stelle starrte, wo sie gewesen war, spürte Tom, dass eine stumme Hektik um ihn her ausgebrochen war. Er sah sich rasch um und bemerkte gerade noch, wie der Flur sich seiner Möbel und Teppiche und Bilder entledigte. Vielleicht verschwanden sie nicht richtig, sondern fingen einfach an, nicht mehr da zu sein. Das gotische Barometer zum Beispiel war noch da gewesen, bevor er sich dem roten Fuchs zugewandt hatte; als er zurückblickte, war das Barometer immer noch da, doch machte es den Eindruck von etwas, das nur auf die Wand gezeichnet war, und die Wand dahinter war sichtbar. Unterdessen hatte sich der Fuchs ins Nichts davongestohlen und alle anderen Geschöpfe folgten ihm; und als Tom sich rasch wieder dem Barometer zuwandte, war es bereits verschwunden.
    In Sekundenschnelle war der ganze Flur wieder so, wie er ihn bei seiner Ankunft vorgefunden hatte. Fassungslos stand er da. Aus der Erstarrung löste ihn ein kalter Luftzug am Rücken. Er erinnerte ihn daran, dass die Gartentür noch offen stand. Was immer auch sonst geschehen war, diese Tür hatte er wirklich geöffnet; und er musste sie schließen. Er musste zurück ins Bett.
    Nach einem langen Blick in den Garten schloss er die Tür. »Ich komme zurück«, versprach er leise den Bäumen und dem Rasen und dem Gewächshaus.
    Oben, wieder im Bett, dachte er ruhiger über das nach, was er im Flur gesehen hatte. War es ein Traum gewesen? Eine andere mögliche Erklärung fiel ihm ein: Geister. Das waren sie vielleicht alle: Geister. Im Flur spukten Geister umher, Geister eines Hausmädchens und eines Barometers und eines ausgestopften Fuchses und einer ausgestopften Eule und die Geister von Dutzenden anderer Wesen. Wenn es im Flur wirklich spukte, dann wimmelte es richtig vor Geistern.
    Geister … Voll Zweifel zog Tom die Hand unter der Decke hervor um zu prüfen, ob ihm die Haare zu Berge standen. Das taten sie nicht.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher