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Als die Uhr dreizehn schlug

Titel: Als die Uhr dreizehn schlug
Autoren: Philippa Pearce
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Und er hatte auch keinen eiskalten Schauer gespürt, als das Hausmädchen ihn angesehen und ihr Blick durch ihn hindurchgegangen war.
    Mit seiner eigenen Erklärung war er nicht zufrieden, und plötzlich hatte er das Erklärenmüssen ganz satt. Es war ja nicht so, dass der Flur besonders interessant war, mit oder ohne Hausmädchen und all dem andern; der Garten war es. Den gab es wirklich. Morgen würde er dort hinuntergehen. Fast spürte er, wie er beim Klettern die Äste umklammerte; beinahe roch er die schweren Hyazinthenblüten in den Eckbeeten. Er kannte diesen Geruch von zu Hause: drinnen von den Blumentöpfen der Mutter, an Weihnachten und Neujahr; draußen von ihrem Blumenbeet, im späten Frühling. In Gedanken an zu Hause schlief er ein.

Bei Tage
    A ls Tom am nächsten Morgen erwachte, konnte er sich nicht erklären, warum er so glücklich war – bis er sich an den Garten erinnerte. Die Erscheinungen im Hausflur kamen ihm immer unglaublicher vor, aber was er durch die Tür zum Garten gesehen hatte, blieb in seinen Gedanken unverändert haften. Doch nun fiel ihm ein, dass es gar nicht so einfach sein würde, den Garten zu besuchen, wie er letzte Nacht gedacht hatte. Onkel und Tante würden sicher alles tun, um ihn daran zu hindern; sie wollten nicht, dass er in den Garten ging, warum denn sonst hatten sie ihm verheimlicht, dass es ihn gab?
    Bei diesem Gedanken stieg in Tom wieder der Zorn gegen sie hoch, und er beschloss, sie zu entlarven. Er musste ein sehr geschicktes Spiel treiben: Mit scheinbar arglosen Anspielungen wollte er sie überführen, ohne dass sie jemals Verdacht schöpfen würden, dass er von dem Garten wusste und vorhatte, dorthin zu gehen. Beim Frühstück fing er an.
    »Glaubt ihr, dass man nicht lügen darf?«
    »O Tom!«, rief Tante Gwen. »Natürlich!«
    »Ich meine«, sagte Tom, »glaubt ihr, dass es manchmal vielleicht doch richtig ist zu lügen?«
    »Ist Lügen in manchen Fällen zu rechtfertigen?« Das war die Art von Fragen, die Onkel Alan gern erörterte. Er faltete die Zeitung zusammen und räusperte sich. »Ich nehme an, Tom, dass du an etwas denkst, was als Notlüge bezeichnet wird?«
    »Das meine ich eigentlich nicht«, sagte Tom. »Zumindest, ich meine – nun, wenn jemand nicht erfährt, dass es etwas gibt, was ihn freuen würde, weil andere Leute ihm nichts davon erzählen wollen. Ich meine, wenn die andern auch noch behaupten, da sei überhaupt nichts, um sich nicht weiter darum kümmern zu müssen.«
    Tante Gwen sah verwirrt aus. »Was sollte das denn sein, von dem die einen nicht wollen, dass es die anderen erfahren?«
    »Der andere, nicht die anderen«, sagte Tom. »Und es geht um – nun –«
    »Eine Wärmflasche vielleicht?«, riet Tante Gwen.
    »Nein«, sagte Tom, »eher etwas wie« – er suchte nach etwas zwischen einer Wärmflasche und einem großen Garten – »wie ein Sofa vielleicht – ein großes Gartensofa.«
    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich je von so etwas gehört hab«, sagte Tante Gwen. »Ein großes Gartensofa?«
    »Es spielt im Grunde keine Rolle, was es ist, Gwen«, sagte Onkel Alan ungeduldig. »Wenn ich Tom richtig verstehe, geht es darum, dass jemand oder auch mehrere Menschen einfach aus Bequemlichkeit gelogen haben, und zum Schaden eines oder mehrerer anderer. Stimmt das, Tom?«
    »Ja«, sagte Tom. »Ich hab mich nur gefragt, ob ihr glaubt, dass eine solche Lüge richtig ist. Nichts weiter.«
    »Von allen möglichen Formen des Lügens«, verkündete Onkel Alan, »ist das gewiss diejenige, welche am wenigsten zu rechtfertigen ist. In der Tat ist sie offensichtlich in keiner Weise zu rechtfertigen.« Er sah Tom streng an. »Es überrascht mich, Tom, dass du daran zweifelst.« Er packte die Zeitung und die Post in die Tasche und ging zur Arbeit.
    »Mach dir keine Gedanken, Tom«, sagte Tante Gwen. »Onkel Alan hat einen sehr hoch entwickelten Sinn für das, was richtig und falsch ist. Das sagt er selbst. Wenn du älter wirst, geht es dir bestimmt genauso.«
    »Den hab ich schon jetzt!«, sagte Tom empört. »Nur sind da andere Leute, denen fehlt er.«
    Tom hatte eigentlich nicht vorgehabt, Tante Gwen zu bedrängen, während Onkel Alan fort war. Das schien ihm unfair. Großartige Vorhaben brechen jedoch oft unter dem Druck von nichts Ernsterem als Ärger zusammen, und Tom war jetzt sehr verärgert. Man hatte ihm das Gefühl gegeben, im Unrecht zu sein, wo er doch im Recht war; und die Menschen, die ihm dieses Gefühl verschafft hatten, waren die
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