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Als die Uhr dreizehn schlug

Titel: Als die Uhr dreizehn schlug
Autoren: Philippa Pearce
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Tür weit auf, um das Mondlicht einzulassen. Es flutete herein, hell wie das Licht des Tages – wie das weiße Tageslicht, das scheint, bevor die Sonne ganz aufgegangen ist. Die Beleuchtung war jetzt tadellos, doch Tom ging nicht sofort zurück, um nachzusehen, was die Uhr ihm jetzt zeigte. Stattdessen trat er einen Schritt vor auf die Türschwelle. Was er draußen sah, ließ seinen Blick erstarren, erst vor Überraschung, dann vor Empörung. Dass sie ihn hinters Licht geführt – ihn angelogen – hatten, und zwar dermaßen! »Es lohnt sich nicht, hinten rauszugehen, Tom«, hatten sie gesagt. So abschätzig hatten sie es beschrieben: »Eine Art Hinterhof, ganz winzig, mit Mülleimern. Wirklich, da gibt's nichts zu sehen.«
    Nichts … Nur das: Ein großer Rasen mit blühenden Blumenbeeten; eine riesige Tanne und dicht belaubte, käferbraune Eiben, deren bucklige Gestalten zwei Seiten des Rasens säumten; am rechten Ende des Rasens stand ein Gewächshaus, das fast so groß war wie ein richtiges Haus; und von jeder Ecke des Rasens führte ein Pfad ab, der sich unter Bäumen weiter in die Tiefen des Gartens fortschlängelte.
    Tom war wie von selbst nach draußen getreten und hatte überrascht den Atem angehalten; nun atmete er tief seufzend aus. Morgen, bei Tageslicht, würde er sich hier herausschleichen. Sie hatten versucht, ihn davon fern zu halten, doch jetzt konnten sie ihn nicht mehr aufhalten – nicht die Tante, nicht der Onkel, nicht die Mieter in der hinteren Wohnung, nicht einmal die merkwürdige Mrs Bartholomew. Er würde mit aller Kraft über den Rasen rennen und über die Blumenbeete springen; er würde durch die glitzernden Scheiben des Gewächshauses spähen – vielleicht sogar die Tür öffnen und hineingehen; er würde jede Nische und jeden Hohlweg zwischen den Eiben erkunden – er würde auf die Bäume klettern und sich durch die dicht verschlungenen Äste von einem zum andern hangeln. Wenn sie ihn dann riefen, würde er sich verstecken, stumm und geborgen wie ein Vogel, unter diesem dichten Vorhang aus Blättern, Zweigen und Baumstämmen.
    Schon jetzt war er in Versuchung. Der Garten lag so einladend und klar vor ihm – von den stoppligen Blattspitzen der nahen Eiben bis zu den eingerollten Blütenblättern der Hyazinthen in den Halbmondbeeten der Rasenecken. Doch Tom fielen die zehn Stunden und sein Ehrenwort ein. Widerstrebend wandte er sich vom Garten ab und kehrte ins Haus zurück, um nachzusehen, was die Standuhr anzeigte.
    Noch ganz in Gedanken daran, was er draußen gesehen hatte, trat er über die Schwelle. Vielleicht konnte er deshalb nicht sofort erkennen, wie sich der Flur verändert hatte. Die Augen zeigten ihm eine schattenhafte Wandlung; sein bloßer Fuß versuchte ihm etwas zu sagen …
    Jedenfalls war die Standuhr immer noch da und sie musste ihm jetzt die richtige Zeit zeigen. Entweder war es zwölf oder eins. Eine Stunde dazwischen gab es nicht. Es gibt keine dreizehnte Stunde.
    Tom kam bei seinem Erkundungsgang nie bis zur Uhr, und man mag ihm verzeihen, dass er dieses Mal vergessen hat, ihre Wahrhaftigkeit zu prüfen. Seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, weil vorne im Flur eine Tür aufging – die Tür der vorderen Erdgeschosswohnung. Ein Hausmädchen trat heraus.
    Tom hatte Hausmädchen bisher nur auf Bildern gesehen, doch er erkannte die weiße Schürze, die Haube, die Manschetten und die schwarzen Strümpfe. (Er war kein Fachmann für Mode, doch das Kleid schien ihm recht lang für sie zu sein.) Sie trug Papier, Feuerholz und eine Schachtel Streichhölzer.
    Er hatte nur eine Sekunde, um all dies zu beobachten. Dann fiel ihm ein, dass er sich sofort verstecken musste; doch es gab hier kein Versteck. Und wenn sie ihn nun einmal sehen musste, beschloss Tom, wollte er als Erster sprechen – um sich zu erklären.
    Er hatte keine Angst vor dem Hausmädchen; als sie näher kam, sah er, dass sie noch recht jung war. Um auf sich aufmerksam zu machen, ohne sie zu erschrecken, hustete Tom; doch sie schien ihn nicht zu hören. Sie kam näher. Tom trat vor in ihr Blickfeld; sie sah ihn an, doch sie sah auch durch ihn hindurch, als ob er nicht da wäre. Toms Herz hüpfte auf seltsame Weise. Sie ging an ihm vorbei.
    »Hör mal!«, protestierte er laut; doch sie schenkte ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit. Sie war jetzt an ihm vorbei, erreichte die Eingangstür der rückwärtigen Erdgeschosswohnung, drehte den Türknopf und ging hinein. Weder läutete sie noch schloss sie die Tür
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