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Alles, was ist: Roman (German Edition)

Alles, was ist: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was ist: Roman (German Edition)
Autoren: James Salter
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Moment, das wusste er.
    Er war sich nicht sicher, was sie und ihn betraf. Er war zu alt, um zu heiraten. Er wollte keinen späten, sentimentalen Kompromiss. Dafür hatte er zu viel erlebt. Er hatte einmal geheiratet, mit ganzem Herzen, und sich geirrt. Er hatte sich unfassbar in eine Frau in London verliebt, und es war irgendwie verblasst. Wie vom Schicksal getroffen hatte er eines Abends in der romantischsten Begegnung seines Lebens eine Frau kennengelernt und war hintergangen worden. Er glaubte an die Liebe – er hatte das immer getan –, aber jetzt war es wohl zu spät. Vielleicht konnten sie für immer so weitermachen, wie ein Leben in der Kunst. Anna , so nannte er sie, Anna, bitte komm. Setz dich neben mich.
    Wells hatte wieder geheiratet und dabei noch weniger gewusst. Er hatte die Beine einer Frau gesehen und mit ihr im Nachbargarten geredet. Sie waren zusammen auf und davon, und seine Frau hatte ihr Leben um seines gefügt. Vielleicht war es das, worum es im Grunde ging, sein Leben einzurichten. Vielleicht würden sie reisen. Er wollte schon immer nach Brasilien fahren, wo Elizabeth Bishop mit ihrer brasilianischen Lebensgefährtin Lota Soares gelebt hatte, zu den beiden Flüssen, einer blau, der andere braun, die dort zusammenliefen und von denen sie geschrieben hatte. Er wollte schon immer zurück in den Pazifik, dort lag der einzige wagemutige Teil seines Lebens, er wollte ihn durchqueren, seine Weite, vorbei an den großen vergessenen Namen, Ulihi, Majuro, Palau, vielleicht an ein paar Gräber gehen, Robert Louis Stevensons oder das von Gauguin, es dauerte zehn Tage mit dem Schiff von Tahiti bis nach Japan. Sie würden gemeinsame Reisen planen und in kleinen Hotels übernachten.
    Sie war ihre Eltern besuchen gefahren. Es war Oktober, er war allein. Die Wolken in jener Nacht waren dunkelblau, ein Blau, das man selten sah, leuchtend vor dem verdeckten Mond, und er dachte wie so oft an Nächte auf dem Meer oder im Hafen, kurz bevor sie ausliefen.
    Er war zufrieden damit, allein zu sein. Er hatte sich etwas zu essen gemacht, danach saß er mit einem Glas neben seinem Ellbogen und las, genau wie damals in dem kleinen Wohnzimmer auf der zehnten Straße, Vivian war zu Bett gegangen, und er saß im Schein der Lampe. Die Zeit war ohne Grenzen, am Morgen, in der Nacht, das ganze Leben lag vor ihm.
    Er dachte oft an den Tod, aber meistens aus Mitgefühl für ein Tier oder einen Fisch oder beim Anblick des welken Grases im Herbst oder wenn er die Monarchfalter an den Seidengewächsen hängen sah, wie sie sich vor ihrem großen Begräbnisflug noch einmal stärkten. Wussten sie davon, von der Kraft, die es sie kosten würde, diese heroische Kraft? Er dachte an den Tod, aber er war nie imstande gewesen, ihn sich vorzustellen, das Nichtsein, wenn alles andere weiterlebte. Die Vorstellung, aus dieser Welt in eine andere überzugehen, das Jenseits, war zu fantastisch, um daran zu glauben. Und dann die Seele, die sich erheben und auf eine nicht bekannte Weise ins ewige Reich Gottes eingehen würde. Dort würde man alle wiedersehen, die man im Leben kannte, und auch die anderen, die man niemals gekannt hatte, all die unzähligen Toten, deren Zahl immer weiter wuchs und doch immer kleiner wäre als die Unendlichkeit. Es würden nur jene fehlen, die glaubten, es gäbe kein Danach, wie seine Mutter gesagt hatte. Es gäbe keine Zeit mehr – die Zeit verginge im Flug, wie die Zeit, nachdem man eingeschlafen war. Es gäbe nur noch Freude.
    Was immer man glaubte, was passierte, würde auch passieren, hatte Beatrice gesagt. Sie glaubte an einen wunderschönen Ort. Rochester, hatte sie gesagt, um einen Witz zu machen. Er selbst hatte immer einen dunklen Fluss gesehen und die langen Reihen derer, die auf den Bootsmann warteten, resigniert und geduldig, wie es der Ewigkeit gebührte, sie hatten alles zurückgelassen außer einem letzten Gut, einen Ring, eine Fotografie oder einen Brief, der für alles stand, was ihnen kostbar war und für immer zurückgelassen wurde, sie hofften irgendwie, da es doch so klein war, könnten sie es vielleicht mitnehmen. Er besaß einen solchen Brief, von Enid. Die Tage mit dir waren die schönsten Tage in meinem Leben …
    Was, wenn es keinen Fluss gäbe, sondern nur die endlosen Reihen unbekannter Menschen, Menschen ohne jede Hoffnung, wie es sie im Krieg gegeben hatte. Er würde sich zu ihnen stellen und bis in die Ewigkeit warten. Dann fragte er sich, wie schon oft, wie lange ihm noch blieb.
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