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Alles, was ist: Roman (German Edition)

Alles, was ist: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was ist: Roman (German Edition)
Autoren: James Salter
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belebt. Mit seinem zurückgekämmten grauen Haar und der Brille sah er leicht germanisch aus. In Chatham gab es am Abend nicht viel zu tun, außer fernzusehen.
    Sie hätten Wiedersehen mit Brideshead gesehen, sagte Michele. »Der Schauspieler, der Sebastian spielt, ist wunderbar.«
    Wells machte eine vulgäre Bemerkung.
    »Ich dachte, das wäre ein reiner-Körper-reine-Seele-Abend«, sagte sie.
    »Ach ja, stimmt ja«, sagte er.
    Eigentlich gefielen ihr obszöne Bemerkungen, zumindest privat, vor allem, wenn sie einen literarischen oder historischen Hintergrund hatten. Er sprach manchmal von ihrer Scheide als die französische Konzession und arbeitete sich von dort aus weiter. Er habe sich in seine Frau verliebt, bevor er sie überhaupt gesehen hatte, sagte er. Er sah nur zwei Beine unter ein paar Laken, die auf der Leine nebenan zum Trocknen aufgehängt wurden.
    »Man weiß nie, was sie überzeugt«, sagte Michele. »Und dann waren wir schon auf halbem Weg in Mexiko.«
    Als der Kellner die Karten brachte, nahm Wells die Brille ab, um sie genau zu studieren. Später fragte er ein paar Dinge zu den Gerichten und wie sie zubereitet wurden, er ließ sich nicht drängen, etwas an seiner gediegenen Art erlaubte es ihm.
    »Was wollt ihr? Rot oder weiß?«, fragte Bowman.
    Sie entschieden sich für rot.
    »Was ist Ihr bester Rotwein?«
    »Der Amarone«, sagte der Kellner.
    »Dann nehmen wir eine Flasche.«
    »Ein sehr guter Wein«, sagte Wells. »Aus dem Veneto, wahrscheinlich die zivilisierteste Gegend in Italien. Venedig war jahrhundertelang die Stadt schlechthin. Als London dreckig und verkommen war, war Venedig wie eine Königin. Shakespeare ließ vier seiner Stücke in Venedig spielen, Othello , Der Kaufmann , Romeo und Julia …«
    »Romeo und Julia« , sagte Ann. »Spielt das nicht in Verona?«
    »Das ist ganz in der Nähe«, sagte Wells.
    Als das Essen kam, widmete er sich mit ganzer Aufmerksamkeit seinem Teller. Er aß wie ein begünstigter Priester und antwortete, während er kaute.
    »Ich war noch nie in Venedig«, sagte Ann.
    »Ach nein?«
    »Nein, es hat sich nie ergeben.«
    »Die beste Zeit ist Januar. Da sind die Massen weg. Man sollte aber eine Taschenlampe mitnehmen, wegen der Gemälde. Die hängen alle in Kirchen ohne richtige Beleuchtung. Mit einer Münze geht zwar kurz eine Lampe an, aber auch nur für fünfzehn Sekunden. Man muss schon sein eigenes Licht mitbringen. Und nehmen Sie bloß kein Hotel auf der Guidecca. Da ist man zu weit ab vom Schuss. Wenn Sie mal hinfahren, sagen Sie mir Bescheid, ich sag Ihnen dann, was Sie sich ansehen müssen. Der Friedhof ist das Beste. Djagilews Grab.«
    Ann war bei jedem Wort fasziniert.
    »Djagilews Grab ist nicht das Beste«, sagte Bowman.
    »Na ja, aber nah dran. Okay. Machen wir ein Spiel, das Beste in Paris, das Beste in Rom, das Beste in Amsterdam. Der Gewinner bekommt einen Preis.«
    »Und der wäre?«
    Der Preis wäre Ann Hennessy, dachte Wells bei sich, aber er war noch nicht betrunken genug, um es zu sagen.
    Es war ein anregender Abend. Der Amarone war gehaltvoll, und sie bestellten eine zweite Flasche. Anns Gesicht leuchtete. Sie war der Katalysator für den Abend. Bowman waren ihre grazilen Hände nie zuvor aufgefallen. Er sah, dass sie Baums Geliebte gewesen war, obwohl sie im Grunde etwas Unverdächtiges an sich hatte. Er wusste es einfach, wenn er sie ansah. Später merkte er, dass er sich getäuscht hatte, als sie alle zusammen auf der dunklen Straße standen und sich ausgiebig voneinander verabschiedeten und sie ihre Hände geschlossen vor sich hielt wie ein junges Mädchen und etwas – ihre Lebhaftigkeit – von ihr gewichen war. Er winkte ein Taxi heran, und sie stieg ohne ein Wort vor ihm ein.
    »Es war ein sehr schöner Abend«, sagte er, während sie fuhren.
    Sie sagte nichts.
    »Du warst wundervoll«, sagte er.
    »Wirklich?«
    »Ja.«
    Nach einer Weile suchte sie in ihrer Handtasche nach ihren Schlüsseln.
    Ihr Apartment lag auf der Jane Street. Das Gebäude hatte keinen Portier, nur zwei hintereinanderliegende verriegelte Glastüren.
    »Würdest du gerne mit hochkommen?«, sagte sie unerwartet.
    »Ja«, sagte er. »Auf ein paar Minuten.«
    Sie wohnte im zweiten Stock, und sie gingen zu Fuß nach oben. Der Aufzug war defekt. Sie machte die Lampen an, als sie das Apartment betraten, und zog den Mantel aus.
    »Möchtest du etwas trinken?«, sagte sie. »Viel hab ich nicht. Ich glaub, es gibt noch etwas Scotch.«
    »Gut. Ich nehm einen
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