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Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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Straßenname und eine Hausnummer. »Das Haus gehört einem Herrn, Sir«, fügte er hinzu.
    »Was für einem Herrn?« fragte ich und machte mich auf den Namen Phillip Asher gefaßt.
    »Einem Herrn namens Samuel Asher«, sagte der Detektiv.
    Ich war sprachlos vor Überraschung, was der Bursche aus Boston erwartet zu haben schien. (Privatdetektive sind wie Polizisten, nicht wahr, sie bringen immer nur Hiobsbotschaften. Machen sie sich hart? Oder sind sie nur lüsterne Zeugen extremen menschlichen Verhaltens?)
    »Sie lebt dort?« fragte ich.
    »Zu allem Unglück, ja«, sagte er.
    »Meine Frau ist unglücklich?« fragte ich.
    »Nein, nein, ich bin unglücklich, Ihnen das sagen zu müssen.«
    »Das sollten Sie auch sein«, sagte ich.
    (Wie kam es zu der Begegnung zwischen Samuel und Etna? Hat Etna all ihr Schamgefühl in New Hampshire zurückgelassen und sich direkt zu seinem Stadthaus begeben? Verspürte Samuel bei Etnas Anblick die ganze Macht der Liebe, die er einmal gekannt und dann aufgegeben hatte? Genossen sie das Glück dieser zweiten Chance? Erzählte er ihr von seiner wenig glücklichen Ehe? Nahmen sie ihre erfüllende und einigermaßen erstaunliche sexuelle Beziehung sofort wieder auf? Dachten sie je darüber nach, was sie sechs Kindern antaten?)
    Tatsächlich weiß ich nichts von dieser Wiederaufnahme ihrer Liebesbeziehung, und der Leser wird Verständnis haben, wenn ich hier nicht bei Spekulationen verweile. Dennoch frage ich mich oft, ob ich nicht für Etna Bliss eine Art Interregnum war. Natürlich der Vater ihrer Kinder. Vor Recht und Gesetz ihr Ehemann. Ein Mann, den sie nie geliebt hat, so traurig das ist. Vor allem aber war ich, denke ich, der Mann, mit dem sie zwischen der ersten und der zweiten Beziehung mit Samuel Asher lebte. Und wenn ich mich quälen will, was gelegentlich der Fall ist, denke ich an Etnas Worte im Schlafzimmer der Familie Bliss, kurz bevor sie mir auf so berauschende Weise zeigte, welcher Leidenschaft sie fähig war. Sie sagte, es sei ein Geschenk, so tief, so frei lieben zu können.
    (Und wenn ich ein Interregnum gewesen bin, was ist dann Phillip Asher gewesen? Ein Interregnum im Interregnum? Nichts als das Echo einer früheren Liebe? Haben Phillip und Samuel je wieder miteinander gesprochen? Ich weiß es nicht.)
    Im Juni werde ich aus dem Thrupp College ausscheiden, das leider noch immer viel zu sehr an die Lehranstalt erinnert, die es 1899 und 1915 war. Im Lauf meiner Amtszeit als Collegevorstand habe ich an die dreißig Dozenten eingestellt, habe die Zahl der Immatrikulationen von vierhundert auf sechshundert gesteigert, aus drei Trimestern zwei Semester gemacht und das Studium des zeitgenössischen amerikanischen Romans in den Lehrplan aufgenommen, eine radikale Maßnahme, die alle überraschte.
    Vor drei Jahren wurde mir von einem Anwalt mitgeteilt, daß Etna an Influenza gestorben sei. Sie war bei ihrem Tod sechsundfünfzig Jahre alt. Ihre Schwester Miriam nahm merkwürdigerweise die größten Mühen auf sich, um Etnas Leichnam zur Beisetzung im Familiengrab in Exeter aus England überführen zu lassen; vielleicht bereute sie ihr früheres herablassendes Verhalten ihrer Schwester gegenüber. Noch merkwürdiger war, daß man mich zur Beerdigung einlud. Ich trat zaghaft an, weil ich befürchtete, dort entweder Phillip oder Samuel Asher zu begegnen. Ich hätte mich nicht zu sorgen brauchen, es war keiner von beiden da. Samuel hatte sich offenbar aus Gründen, die nur ihm bekannt waren, dagegen entschieden, den Leichnam auf der Überfahrt zu begleiten. Die Beerdigung selbst war eine armselige Angelegenheit, ohne große Beteiligung, wie eigentlich nicht anders zu erwarten. Etna hatte ja fünfzehn Jahre außer Landes gelebt. Der Geistliche, der sie nicht gekannt hatte, nannte sie immer wieder Edna , was das seltsam wohltuende Versinken im Schmerz etwas störte.
    Danach habe ich jahrelang getrauert. Und ich trauere immer noch.
    Ich versuche, mir nicht mehr ständig vorzustellen, wie sich Etnas Leben mit Samuel in England abgespielt hat. Obwohl die beiden bis zu ihrem Tod zusammenlebten, haben sie nicht geheiratet. War das Etnas Entscheidung? Oder Samuels? Hat sie unter dem Verlust ihrer Kinder gelitten? Ich denke, ja. Ich denke, meine Frau führte ein Leben, das zu gleichen Teilen aus gemeinsam erlebtem Glück und privat erlebtem Schmerz bestand.
    Bis heute hat Nicodemus keinen Versuch gemacht, in Erfahrung zu bringen, warum seine Mutter nach London ging und ihn im Alter von sechs
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